: Das Vaterland braucht Kinderlieder
Vor der Wahl: Einige verstreute Gedanken über die Nationalgesänge der Deutschen ■ Von Elisabeth Eleonore Bauer
Jeder denkt jetzt national — wenigstens ein klein bißchen. Sogar Leute, die sich das nie hätten träumen lassen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit verlieren sich die alten Allergien. Kaum ein Jahr ist es her, daß der klägliche Untergang der Hymne im Pfeifkonzert der Landeskinder landauf und landab mit klammheimlicher Freude quittiert und im TV eilig retuschiert wurde. Und wo ist der beliebte Feierabendsport in Wohngemeinschaften ohne Fernbedienung geblieben: der Sprint zum Einschaltknopf bei Sendeschluß? Statt dessen befassen sich nun Grüne und Gewerkschafter ganz im Ernst mit der Frage nach der künftigen deutschen Nationalhymne. Suchen nach konstruktiven Gegenvorschlägen zum garstigen alten Deutschlandlied (das sich gerade wieder mächtig einbürgert). Werben (als stünde da überhaupt noch etwas zur Wahl) für ein neues, besseres Lied, auf „daß ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land.“
So heißt es, gut gemeint und schlecht gereimt, in der ersten Strophe von Brechts Festlied für Kinder aus dem Jahre 1950. Es ist derzeit Favorit in der alternativen Nationalhymnendebatte. In NRW gründete sich eigens dazu das „Projekt Kinderhymne“ — und ein Verein gewerkschaftlich orientierter Chöre hat das Lied auch schon eingespielt für die Schallplatte, in einer musikalischen Fassung, die sich auf Beethovens Ode an die Freude stützt. Dies geschah unter fachkundiger Anleitung des Musikwissenschaftlers Hartmut Flad, der vorgestern noch dem Westberliner Hanns-Eisler- Chor eng verbunden und selbst Komponist von Kampfliedern im Eislerstil gewesen war — heute freilich der Ansicht zuneigt, Eislers Vertonung der Kinderhymne sei nicht massenwirksam genug und Brecht habe beim Dichten eher an „Beethovens Musik gedacht“ (vgl. taz vom 6. 10. 90).
Gewiß, gewiß! Woran sonst sollte ein deutscher Dichter denken, zumal wenn er stur und schnurgerade Hebung an Senkung reiht. Außerdem hat Brecht wohl noch an Haydns alte Kaiserhymne gedacht sowie an die hierzu nachgedichteten Verse von Hoffmann von Fallersleben, der ja auch das deutsche Vaterland tüchtig blühen ließ, ganz wie Goethe sein Röslein auf der Heiden — oder war es womöglich umgekehrt: daß Goethe und Hoffmann, Schiller nicht zu vergessen, eigentlich an Beethoven dachten und dieser hinwiederum an Eisler, der seinerseits Haydn im Sinn hatte, als er 1949 in Warschau ein Gedicht seines Freundes Johannes R. Becher in Musik setzte, dadurch — mehr oder weniger zur eignen Überraschung — zum Schöpfer der DDR- Hymne wurde und infolgedessen Nationalpreisträger erster Klasse? Kurzum: Ob man nun lieber „Gott erhalte Franz den Kaiser“ singen möchte oder „Deutschland, Deutschland über alles“ oder „Anmut sparet nicht noch Mühe“ — Beethoven paßt immer.
Ebensogut paßt natürlich die Melodie von Morgen kommt der Weihnachtsmann. Denn die Nationalgesänge der Deutschen treten stets mit dem jambischen Versfuß auf, wie übrigens die meisten der im 19. Jahrhundert künstlich erfundenen Volks- und Kinderlieder: einszwei, einszwei, gerade heraus und keine krummen Sachen. Nur den Kinderliedern — etwa dem Männlein, das im Walde steht — ist, bevor sie in den Gleichschritt finden, gelegentlich ein kleiner verspielter Auftakt gestattet. In dieser metrisch zuverlässigen Verfassung des vaterländischen deutschen Liedguts erweist sich erstens sein besonderer politischer Sinn: spiegelt sich doch darin das treue Verhältnis der Landeskinder zum Landesvater. Zweitens sind unsere nationalen Kinderhymnen, anders als beispielsweise die unberechenbaren Rhythmen der Marseillaise oder des Rule Britannia, pädagogisch wertvoll. Sie sind schnell zu lernen und leicht zu singen — und nicht, wie die nationalen Gesänge anderer Völker, im Eifer des Gefechtes, sondern mit Bedacht und der Zukunft zugewandt in der Studierstube von erfahrenen älteren Mitbürgern ersonnen worden.
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben zum Beispiel war ein gestandener Germanistikprofessor und Mittelalterforscher, als er 1841 während einer Badekur auf der damals noch britischen Insel Helgoland sein Deutschland, Deutschland über alles schrieb. Siehe da: Fünfzig Jahre später kehrte Helgoland heim ins Reich. Alsdann hat Hoffmann von Fallersleben außer dem Deutschlandlied noch eine Fülle weiterer erfolgreicher Kinderlieder gedichtet: Summ, summ, summ, Bienchen summ herum stammt ebenso aus seiner Feder wie Alle Vögel sind schon da oder auch Ein Männlein steht im Walde. Ein Paradestück aber, das geradezu klassische Muster kinderstubenreiner Dichtkunst, lieferte er mit seinem augenblicklich wieder aktuellen Lied Morgen kommt der Weihnachtsmann: Es handelt sich dabei um die freie Eindeutschung eines französischen Volksliedes, das damals in deutschen Wohnstuben und zumal unter klavierspielenden höheren Töchtern nicht zuletzt deshalb so verbreitet, beliebt und bekannt war, weil Mozart über die Melodie eine Anzahl Variationen komponiert hatte. Zwar ist die Melodie einfach und unschuldig — nicht aber der Text des tückischen Chansons: Ah vous dirais-je, maman erzählt mit frecher Liebe zum Detail davon, wie ein junges Mädchen mit seinem Galan ins Gebüsch kriecht und was es dort treibt. Mozart, das Ferkel, hatte sich bei der Komposition sicher wieder mal nichts gedacht. So war es an Hoffmann von Fallersleben, die sittlichen Gefahren, die aus dem Gebrauch der Mozartschen Variationen für die deutsche Jugend, für deutsche Frauen und deutsche Treue gegebenenfalls erwuchsen, abzuwenden und den französischen Freund auszutauschen gegen unseren guten Weihnachtsmann.
Ganz echt deutsch ist übrigens auch das Deutschlandlied eigentlich nicht. Denn als 1797 Napoleons Truppen unter den Klängen der Marseillaise auf Wien vorrückten und der greise Joseph Haydn vom Hofe gebeten war, für die Österreicher eine ähnlich motivierende und gemeinsinnstiftende Hymne zu schaffen, da griff er zurück auf das kroatische Volkslied Vjutro rano, das ihm noch aus seiner Kinderzeit im österreichisch-ungarischen Grenzland geläufig war. Die Melodie ist für die gesamten ersten vier Verszeilen gleich, bis auf eine neu komponierte Kadenzformel — für die letzten vier Verse aber borgte Haydn sich ein paar Töne bei seinem Bruder Michael aus. So ist denn das gemütvolle Lied zum Lobe des guten Kaiser Franz, das dann später als Deutschlandlied große Karriere machte, zur Hälfte eine slawische Leihgabe und im großen und ganzen ein Plagiat.
Die Karriere des Deutschlandlieds war zwar groß, aber kurz und durchbrochen. Erst 1922 wurde Haydns Weise mit Hoffmanns Versen offiziell zur deutschen Nationalhymne deklariert. Rund zehn Jahre später reichte das nicht mehr aus und zur Ergänzung sang man das Horst- Wessel-Lied. Dann durfte das Deutschlandlied überhaupt nicht mehr gesungen werden, weil es zum nationalsozialistischen Liedgut gerechnet und als solches vom Alliierten Kontrollrat 1945 verboten worden war. Von Amts wegen ist die Hymne seither nicht mehr juristisch einwandfrei anerkannt. Das Grundgesetz legte zwar die Bundesfahne fest, aber nicht die Bundeshymne — ein mit der Frage befaßter „Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsschutz“ erklärte sich für „nicht zuständig“ — und während Theodor Heuss mit sich und den Bürgern zu Rate ging und einen demokratischen Hymnenfindungsprozeß eröffnete, wurde Konrad Adenauer im Ausland stumm empfangen oder, wie 1949 in Chicago, mit dem schneidigen Schlager Heidewitzka, Herr Kapitän.
Das ging zu weit. Adenauer sang kurzerhand öffentlich im Berliner Titania-Palast das verbotene Lied, wenn auch nur die dritte Strophe — womit die Sache denn entschieden war. Nach diesem „schönen Staatsstreich“ (Bundesminister Kaiser) war die Wiedereinführung des Deutschlandlieds nicht mehr aufzuhalten und sie erfolgte per Presseerklärung im Mai 1952 — freilich formlos, ohne Rechtskraft und in aller Stille. Die alliierten Freunde zeigten sich kulant: Es sei, so meinte der amerikanische Hochkommissar McCloy, schließlich „nicht entscheidend, was die Völker singen, sondern wie sie handeln“ — und der 'Manchester Guardian‘ schrieb diplomatisch: „Was die Musik anbelangt, so wäre Beethoven dem Bundespräsidenten lieber gewesen, aber in jedem Falle ist die musikalische Tradition vortrefflich.“
Indes wurden die Genossen im anderen Teil Deutschlands auch nicht glücklich mit ihrer sauberen neuen Hymne. Am Text gab es zwar zunächst nichts auszusetzen, den konnte, wie Dichter Becher seiner Sekretärin gegenüber äußerte, „jede Gemüsefrau verstehen“. Aber wenige Wochen nach der Inthronisierung der neuen Hymne, die am 7.November 1949 in der Staatsoper Unter den Linden erstmals öffentlich, und zwar auf einer Festveranstaltung zum 32. Jahrestag der Oktoberrevolution vorgetragen und auch im Rundfunk übertragen wurde, meldete sich aus Österreich der Schlagerkomponist Peter Kreuder und beanspruchte das Urheberrecht an der Musik. Eislers edel andächtige Melodie zu Auferstanden aus Ruinen fußte, so stellte sich heraus, zumindest in den wichtigen ersten zehn Tönen auf dem Kreuder-Schlager Good bye, Jonny, den Hans Albers 1939 in dem Nazifilm Wasser für Canitoga gesungen und populär gemacht hatte. Kreuder strengte einen Plagiatsprozeß an, er ging damit bis vor die Urheberrechtskommission der UNO — und verlor. Freilich, das Volk gab ihm späte Genugtuung: Als nämlich im Jahre 1976 das Unterhaltungsorchester Peter Kreuder erstmals auch in der DDR gastierte, da intonierte es unter anderem Good bye, Jonny. Und prompt erhob sich das Publikum geschlossen von den Sitzen.
Man muß den Leuten dabei zugute halten, daß sie sowieso nur noch die Instrumentalfassung ihrer Landeshymne gewohnt waren: zu diesem Zeitpunkt durfte der Text vom „einig Vaterland“ ja längst nicht mehr laut gesungen werden in der DDR. Andererseits durfte natürlich nicht zugelassen werden, daß der Plagiatsvorwurf gegen das Staatssymbol wieder neue Nahrung erhielt. So stellte ein 1979 neu herausgekommenes Buch über Die Künste in der DDR ein für allemal klar, daß Eisler, wenn er schon abgeschrieben haben sollte, niemand Geringeren als Beethoven zum Vorbild nahm: „Für die Gestaltung des langsamen Anfangs- und Schlußteils verwandte Eisler nahezu original das Einleitungsmotiv des Liedes Freudvoll, leidvoll (Goethe), op. 84, Nr. 4 von Ludwig van Beethoven.“ Das ist zwar höherer Blödsinn, aber er hat Methode: erstens, weil damit gleich doppelt das klassische Erbe zum Paten der Nationalhymne berufen wird und zweitens, weil der Name Beethoven in der deutschen Nationalhymnendebatte längst bewährt und leicht plausibel ist.
Eisler selbst hätte es gewiß nicht nötig gehabt, seine Spuren so billig zu verwischen. Er war ein Meister des musikalischen Zitats — auch der Kreuder-Schlager war im Jahre 1949 noch viel zu populär, als daß die Ähnlichkeit der Melodien purer Zufall sein dürfte. Überdies steht der Text, den Hans Albers 1939 sang, in mancherlei Hinsicht mit den Versen Bechers in heimlicher Beziehung — im Refrain der zweiten Strophe von Good bye, Jonny heißt es zum Beispiel, durchaus passend und prophetisch: „Eines Tages, eines Tages — mag's im Himmel sein, mag's beim Teufel sein — sind wir wieder vereint.“ So spricht alles dafür, daß Hanns Eisler in voller Absicht ein paar Töne aus dem alten Schlager in der neuen Hymne versteckt hatte, und damit der DDR die Chiffre des Abschieds gleich mit auf den Weg gab.
Mag also sein, McCloy hatte Unrecht. Vielleicht ist es doch entscheidend, was die Völker singen. Dann kämpfen die Gewerkschaftschöre in Nordrhein-Westfalen nicht auf verlorenem Posten, sondern politisch an vorderster Front: das deutsche Vaterland braucht ein neues Kinderlied. Am schönsten ist da freilich immer noch Eislers Version von Brechts Kinderhymne — und am allerschönsten, wenn er selbst sie singt, in einer alten Nova-Aufnahme aus dem Jahre 1958: mit zitternder Stimme, ein bißchen außer Atem, und mit diesen himmlischen, heftigen Altherrenschnaufern mitten in den Worten „blü-hhe“ und „Mü-hhe“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen