Scharf auf Leben

Frauen, Frust und Pubertät: „Von hier bis Kim“  ■ Von Gabriela Wenke

Wie er heißt, und woher er kommt, verrät er nicht, aus Rücksicht auf Betroffene. Nur so viel, daß er eine typische Kleinstadt in Mittelschweden fluchtartig verlassen hat, um endlich das Leben kennenzulernen. Leben heißt auch Frauen. Stockholm ist für ihn zwar noch nicht die große, weite Welt, aber das Optimum, das ein 16jähriger Gymnasiast — mit dem Einverständnis seiner Eltern — erreichen kann. Und tatsächlich, im Gymnasium nebenan gibt es sie: Die Mädchenfrau, das Frauenmädchen, die Erfüllung aller Träume: Kim. Bleibt nur das Problem: Wie kommt er „von hier bis Kim“.

Er duzt die Leserinnen und Leser locker, denkt sie sich etwa in seinem Alter. Er hat jede Menge Sprüche drauf, mit Vorliebe englichsprachige und findet seine Umgebung in der Kleinstadt ätzend. Er fühlt sich unverstanden und macht sich gleichzeitig über sich selbst lustig. Er führt Tagebücher, fängt Romane an und schreibt pornographische Texte ab. Letztere sind in dem Buch, umrahmt von Phantasien des Erzählers himself, abgedruckt. Der junge Held schankt zwischen pubertärem Größenwahn und abgrundtiefer Verzweiflung, das Ganze ist gut durchmischt mit Selbstironie und -kritik. Als Leserin bin ich mehrfach über seine „Männerphantasien“ gestolpert. Aber wenn ich es vielleicht auch wünschenswert fände, wenn die Traumfrau nicht auszusehen bräuchte wie „Pet of the Month“ aus dem 'Playboy‘ und daß das hinreißendste nicht ausgerechnet der Popo sein müßte, so halte sich doch die beschriebenen Wunschträume für die ehrlicheren.

In der Großstadt kommt unser „Held im Aufbruch“ bei einer Tante namens Agnes unter. Sie entspricht nicht im geringsten der sonst so beliebten Karikatur einer älteren Tante: Agnes ist ruhig, zurückhaltend, unaufdringlich und bewahrt Distanz. Was ihr Neffe ihr zu danken weiß. Er macht sich — wenig schmeichelhafte — Gedanken über die Erwachsenenwelt und möchte nicht so wie die „Verwachsenen“ werden. Aber wenn er auch in seiner Kleinstadt so verzweifelt ist, daß er regelrechte Schmerzanfälle bekommt, es ist keine schwarze, aussichtslose Verzweiflung, die ihn befällt.

So kann es nicht weiter gehen, also beschließt er, etwas zu ändern: Wenn man sechszehn ist, ist es gar nicht so einfach, zu entscheiden, nicht mehr in die Schule zu gehen. Tante und Musikgymnasium sind also ein Kompromiß, den er mit seinen Eltern schließt. Im Gegensatz zu anderen Entwicklungsromanen ist die Konfrontation nicht tragisch.

Ähnlich geht es mit der großen Liebe. Er quält sich, er stirbt fast vor Angst, etwas zu unternehmen, aber letztlich tut er es, weil alles besser ist, als weiter die Angebetete von ferne anzuhimmeln. Nach vielem Hin und Her begleitet ihn die erleichterte Leserschaft zum ersten Treffen mit Kim — ganz unoriginell — ins Kino. Was weiter wird, erfahren wir nicht. Sie sitzen beisammen: „Von hier bis Kim, das ist nur eine Bewegung, aber dennoch ist es sehr, sehr weit, bis ich jene Kim, die innerhalb von Kim existiert, ganz und gar erreicht habe...“

Mit dem Ich-Erzähler, dem ich wahrlich nicht bei jeder seiner Überlegungen folgen kann, verbinden mich viele Sympathien, wegen seines unbedingten Bedürfnisses, das Leben ausprobieren zu wollen, bevor, wenn überhaupt, man Regeln und Einschränkungen der Erwachsenen akzeptiert. Ob er seinen literarischen Erzeuger, Bernt Danielsson, der mit dieser Buch seinen ersten Jugendroman vorlegt, wohl für glaubwürdig gehalten hätte? Schließlich ist der auch weit über dreißig. Entweder hat der Autor sich sehr genau erinnert, oder er hat heute sehr genau beobachtet — oder beides. Es gelingt ihm jedenfalls, ein Lebensgefühl so zu dokumentieren, daß ich so schnell keinen Vergleich finde: Ein Sechzehnjähriger auf der Suche nach Feeling und Atmosphäre, ohne Illusionen über den Zustand der Welt, mindestens so „cool wie Carol“ (nachlesen!) und so verliebt wie Werther, aber mit einer überwältigenden Lust auf Leben. Richtig geil halt. Nicht jeden, besonders nicht dem erwachsenen (Mit-)Leser, wird der — einer Jugendsprache angenäherte Jargon zusagen. Aber Danielsson biedert sich nicht an, ahmt Alltagssprache nicht nach. Der Jargon ist vielmehr literarisches Mittel. Ein gelungener Versuch, über das „klassische Jugendbuch“ hinauszuschreiben.

Bernt Danielsson: Von hier bis Kim , aus dem Schwedischen von Brigitta Kicherer, Anrich Verlag 1990, 176 Seiten, ab 16 Jahre, 24,80 DM.