: Auf freier Strecke
■ Ein Buch zum Stöbern
Über zweihundert Seiten, vollgepackt mit Versen, Reimen, Bildern, Märchen, kleinen Geschichten von scheinbar belanglosen Dingen, von alltäglichen Nebensächlichkeiten, von stillen Beobachtungen — das Buch als Schatztruhe. Es scheint, als entwickelten sich die raffiniert schlichten Wort- und Satzgebilde, die Textideen und Gedankenspiele aus einem nicht endenden Schreibfluß heraus. Da gibt es überraschend einfache Vorstellungsbilder: Ein Mann legt sein Ohr auf den Boden und erfährt so, was auf der Welt überall passiert. Da gibt es anrührende Geschichten, in denen der Autor seine Liebe zur Natur bekundet, so in der „schönsten Geschichte der Welt“: Ein Zug stoppt auf freier Strecke, und ein Mann gerät aus seinem Alltagstrott in einen verzauberten Wald — und zu sich selbst. Der Alltag wird zum Märchen, und das Märchen wird zur eigentlich bedeutsamen Wirklichkeit. Dazu malt Nikolaus Heidelbach ein merkwürdiges Bild: Mit Hut, Brille, wehendem Schlips und hochgezogenen Hosen steht der staunende Durchschnittsbürger in strammer Haltung vor dem Panorama mit untergehender Sonne, den Blick in die Ferne gerichtet. Was im Text als Rückkehr zu sich selbst gedeutet werden könnte, wird im Bild zur leicht ironischen Konfrontation zwischen Mensch und Natur. Solche gegensteuernden Illustrationen sind aber bei den meisten Texten gar nicht erforderlich, weil sie selbst jene verhaltene, augenzwinkernde Komik und Absurdität aufweisen, die Heidelbach seit jeher auszeichnet. Wenn Max Brause, ein verrückt- normaler Choleriker, vor Wut an die Decke geht, dann sind beide, Autor und Illustrator, in ihrem Element.
Überhaupt scheint Nikolaus Heidelbach der Illustrator zu sein, der die Magie, mit der Guggenmoos seine Geschichten umhüllt, am genauesten trifft — aber auch dessen hintergründigen Homor. Wer sich den Spaß macht und die Bilder nicht nur auf die Texte hin, sondern einmal umgekehrt die Texte auf die Bilder hin überprüft, fragt sich überrascht, wer durch wen inspiriert worden ist. Ein Buch, sicher nicht systematisch von vorne an durchzulesen; es reizt eher zum Blättern, Stöbern und Auswählen. Es geht um Gangster, Gauner und Gruseln ebenso wie um Träume und Wünsche, um Verrücktes ebenso wie um Melancholie und Trauer. Nicht zuletzt werden die Leser aufgefordert, eigene Geschichten zu erfinden, schnell zu lesen, Rätsel zu lösen, mit den Worten zu spielen. Jens Thiele
Josef Guggenmoos/Nikolaus Heidelbach (Illu.): Oh, Verzeihung, sagt die Ameise. Verlag Beltz & Gelberg 1990, 217 Seiten, 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen