KOMMENTAR
: Wahlkampf

■ Der Haftbefehl gegen Erich Honecker

Der neuerliche Haftbefehl gegen Erich Honecker wirft auf sehr unterschiedliche Weise Fragen auf, die man möglichst emotionslos stellen sollte. Zunächst einmal geht es um den Zeitpunkt: Wie kommt es, daß der 78jährige zwei Tage vor den Bundestags- und Gesamtberliner Wahlen inhaftiert werden soll? Anhaltspunkte für eine Vermischung von Wahlkampf und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sind nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen. Vor allem die Berliner Sozialdemokraten sind von dem Verdacht nicht frei, daß sie die juristische Aufarbeitung der DDR-Geschichte in den letzten Wochen zu Wahlkampfzwecken mißbraucht haben. Aber der Haftbefehl gegen Honecker wird uns auch noch nach dem Wahlkampf beschäftigen. Er geht weit über die häßliche Verquickung von Justiz und Wahlkampf hinaus. Begründet wurde der Haftbefehl mit dem Schießbefehl an der Mauer und seinen tödlichen Folgen. Honecker habe — so die Ermittlungsbehörden — persönlich 1961 und 1974 diesen Befehl unterzeichnet. 1961 als Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates und 1974 als Vorsitzender dieses Gremiums. Zunächst einmal muß man fragen, ob das Abzeichnen des Dokuments tatsächlich Ausdruck einer individuellen Entscheidung oder Ergebnis eines kollektiven Prozesses war und somit alle Mitglieder dieses Gremiums juristisch belangt werden müßten. Zweitens war die DDR letztlich bis zur Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Abkommens in ihrer Souveränität eingeschränkt. Der Schießbefehl gehörte doch über Jahrzehnte zum totalitären System sowjetischer Prägung, galt nicht nur an der innerdeutschen Grenze, sondern entlang des „Eisernen Vorhangs“. Allein unter diesem Gesichtspunkt müßten sich die Ermittlungsbehörden fragen lassen, warum sie nicht genauso gegen den Ex-Staatschef der CSFR, Gustav Husak, vorgehen, ganz abgesehen von denen, die Relikte der vergangenen Breshnew-Ära in der Sowjetunion sind. Auch Gorbatschow war seit 1980 im Politbüro. All dies zeigt die Absurdität, die sich dann ergibt, wenn man die Verantwortung einer ganzen Gesellschaft für ihre Geschichte und ihre Politik auf die Verantwortung eines einzelnen abzuwälzen versucht. Max Thomas Mehr