Ein Gesicht wie ein Gedicht

Schach-WM in Lyon: Nach der zweiten Vertagung der 16. Partie grübelt Kasparows Team  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) — Wenn sich Weltmeister Garri Kasparow und Herausforderer Anatoli Karpow in ihrer glasverkleideten Abgeschiedenheit grünfeldmäßig, sizilianisch oder gar schottisch gegenübersitzen und nachgrübeln, wie sie ihren Opponenten am besten übers Ohr hauen können, sind es keineswegs nur die eigenen Geisteskräfte, die in Anspruch genommen werden. Beide verfügen über ein ansehnliches Team von Mitarbeitern mit fein säuberlich verteilten Aufgabenbereichen, die sogar Pflichten als Tennispartner (bei Karpow) oder Fahrradtourgefährte (bei Kasparow) einschließen.

Unumschränkter Boß der Kasparow-Delegation ist die Mama des Champions, Klara Kasparow. Nach ihrer Pfeife tanzen des Meisters Eheweib Maria, die Großmeister Azmaiaparatschwili, Dolmatow, Gourewitsch, Georgadze; dazu Kadjar Petrosjan, seines Zeichens Konditionstrainer und Koch, der Sekundant Sakharow, Hofjournalist Dworkowitsch und Chauffeur Imirzian.

Karpow verzichtet auf jeglichen familiären Beistand. Er beschäftigt neben Delegationsleiter Zaharapian die Großmeister Portisch, Henley, Podgaets, Zaitsew, Kouzmine und Kharitonow, den Koch Bobylow, der sich ganz seinen Töpfen widmen darf und keine sportlichen Pflichten zu erfüllen hat, sowie den Arzt Chepilenko und den Parapsychologen Igor Akimow, vor dem Kasparow aber im Gegensatz zu vielen anderen keinen Respekt hat. Die Drohung mit den Kräften der Parapsychologie, so der Weltmeister, sei viel wirksamer als ihre tatsächliche Anwendung.

Die Anforderungen an die hochkarätigen Mitarbeiter der Schachstars sind hart und unerbittlich — „keine Frauen, kein Alkohol, keine Journalisten“ — und die Anfechtungen erheblich. 100.000 Dollar wurden Zourab Azmaiaparatschwili angeblich vor Beginn des WM-Kampfes von einem Versucher aus dem Baltikum geboten, wenn er Geheimnisse aus der Vorbereitung Kasparows ausplaudern würde. Er weigerte sich, wenig später brannte das Haus seiner Mutter in Georgien ab.

Aufgabe der Großmeisteranhäufung in den verschiedenen Lagern ist die strategische Planung einzelner Partien und des gesamten WM-Verlaufs, sowie die Analyse von Hängepartien. So spielte Kasparow am Sonntag bei der Fortsetzung der 16. Partie vehement daraufhin, eine weitere Vertagung zu erzwingen, weil er zwar einen Materialvorteil hatte (Turm gegen Springer), aber absolut nicht mehr durchblickte, ob er nun gewinnen könnte oder nicht. Schließlich gelang es ihm tatsächlich, dem widerspenstigen Karpow, der ein Remis anstrebte und sich geschickt verteidigte, nach dem 88. Zug zum Abbruch zu zwingen.

Heute wird die Partie fortgesetzt. Nach Ansicht der in Lyon versammelten Fachleute hat der Titelverteidiger jedoch keine Chance mehr, dem Remis zu entgehen, obwohl er extra eine Auszeit nahm, um die 17. Partie die eigentlich gestern beginnen sollte, zu verschieben und Zeit für die Analyse der Hängepartie zu haben.

Trotz aller Vorbereitung im Team sind die Spieler auf sich gestellt, wenn sie am Brett sitzen. In der spannenden 14. Partie zum Beispiel lief erst alles, wie von Kasparow vorausgesehen. Mit seiner überraschenden schottischen Eröffnung spielte er sich klare Vorteile heraus, doch dann brillierte Karpow und das Blatt wendete sich. Es entstand eine Konstellation, wie es sie in der Schachgeschichte noch nie gegeben hatte, so kompliziert, daß schließlich keiner der beiden in der Lage war, einen entscheidenden Vorteil zu erringen.

„Es war bezeichnend, wie sich sein Aussehen veränderte“, frohlockte Karpow hinterher, „nach den ersten Zügen war er zuversichtlich, überzeugt, daß er gewinnen würde. Aber sein besorgtes Gesicht im Moment der höchsten Spannnung war ein Gedicht.“ Kasparow sah die Sache ähnlich: „Karpow fand eine lange Reihe von einzigartigen Zügen und ich glaubte, er könnte gewinnen. Aber die Position war zu schwierig für die wenige verbleibende Zeit — fünf Züge in zehn Minuten.“

Auffällig ist, daß es Kasparow nach wie vor nicht schafft, aus seinen Vorteilen Kapital zu schlagen. Er bringe nicht hundert Prozent, sagt Boris Spasski, er sei es leid, immer gegen denselben Kerl zu spielen, meint ein Freund. Möglicherweise wird ihm aber auch der Titelverteidigerstatus zum Verhängnis. Beim Stande von 7,5:7,5 genügen ihm weitere neun Remis-Partien zum Sieg, was in unübersichtlichen Situationen eine gewisse Versuchung darstellt. „Es fällt mir schwer, meine psychologische Haltung zu ändern und auf Sieg zu spielen. Ich möchte kein Risiko eingehen, denn das Unentschieden hilft ja mir.“ Eine Gratwanderung, die ins Auge gehen kann. Vielleicht sollte die Mama mal ein Machtwort sprechen.

Vollständige Notation der 16. Partie folgt morgen.