Wenn Menschen brechen

■ Das Pariser Komikerduo »ThéÛtre Décalé« in der Studiobühne

Quantas Airlines. Wir sitzen in einer Boeing und sind auf dem Flug nach Sydney, Australien. Die Passage ist etwas unruhig, bei Andre rotiert der Magen. So gut es geht, quetscht er sich von seinem Fensterplatz zwischen den engen Sitzreihen hindurch zum Gang und rast mit vorgehaltener Hand in Richtung Örtchen. Fahl, mit herunterhängenden Haarsträhnen und noch feucht um Lippen und Kinn kehrt er schließlich etwas wackelig zurück. Wenn Menschen gebrochen haben, ekelt man sich trotz allem Mitleid leicht vor ihnen. Bei Andre meint man das Widerlich-Säuerliche förmlich zu riechen, man wartet ängstlich und angewidert darauf, ob noch einen Mundvoll rausschwappt, vielleicht aufs Jackett von Steve, seinem Kumpel. Ein Igitt-Effekt im Zuschauermagen, der für die Inszenierung spricht.

Aber eigentlich sind sie ja gar nicht in einer Boeing, sondern in einem langweiligen englischen Wohnzimmer — am Weihnachtsabend in einer öden, namenlosen Stadt. Theater im Theater im Theater ... denn eigentlich sind wir nur in der Studiobühne Berlin, einem bezirklichen Theatersaal im Wedding. Daran hat uns gerade auch noch die Ehefrau des französischen Schauspielers erinnert, die mitten in der Vorstellung in Berlin anruft und damit das Treiben auf der Bühne jäh stoppt. Stück hin, Stück her — das Publikum muß warten, die Gute löst bei den beiden Protagonisten auf der Bühne erst einmal eine längere Unterhaltung auf Französisch aus — ehe es dann wieder auf Englisch weitergeht.

Gerade eben noch waren wir in einer Strandbar auf Mallorca, der Sand war so heiß, daß die Fußsohlen brannten. Ach ja, und nun sind wir schon mitten in der lasterhaften Welt eines amerikanischen TV-Krankenhauses und werden in einer Soap- opera Zeugen einer typischen Weißkittelschweinerei: Dr. Kovacs, der Killerchirurg und Schwesternficker vom Dienst, jagt die unschuldige Krankenpflegerin Winnipeg geil lechzend durch die Station. Schwester Winnipeg sollen beide Beine amputiert werden, und das, obwohl sie sich gerade erst eine neue Strumpfhose angeschafft hat...

Trotz minimaler Ausstattung und ohne jeglichen Kostümwechsel schaffen es Alain Fairbairn (»Andre«) und Nicolas Peper (»Steve«) vom Pariser ThéÛtre Décalé, ihrem Publikum über lange Strecken den Realitätssinn zu rauben.

Bing Sings, geschrieben und inszeniert von Tony Durham vom Londoner Theater »Confederacy of Fools« ist laut Ankündigung eine »surrealistische Komödie«. Ein Stück, das, ausgehend von jenem langweiligen Weihnachtsabend, immer wieder die Ebenen wechselt. Steve und Andre — durch das Schicksal irgendwie zusammengeführt — fangen vor dem Fernseher an zu spinnen, zu träumen — eher zwei farblose, uninteressante Männer mittleren Alters. Die beiden werden immer mehr zu guten Bekannten: Steve ist der kleine, der schwächere der beiden, der bei Frauen immer zu kurz kommt, aber ständig an sie denkt. Andre ist der blasierte, britisch-unerotische, schlaksige Durchschnittsmann, der aber immerhin wenigstens gegenüber Steve sein bißchen Stärke ausspielen kann — und dies auch hemmungslos tut. Zwei Spießer unter Millionen, nach denen sich niemand umdreht. Lang und Doof — ein brillantes, professionelles Komikerduo. Wer weder Politisches noch Kritisches noch Botschaften oder bahnbrechend Neues erwartet, erlebt im Wedding einen lustigen, sehr englischen Abend — auch dann, wenn es mit dem Schulenglisch nicht mehr sehr weit her ist. Wer das britische Wortspiel über den Unterschied zwischen Bing Crosby und Walt Disney nicht kapiert, das dem Stück den Namen gab — braucht sich nicht zu genieren. Die Antwort lautet: »Bing sings and Walt Disney!!!«? Thomas Kuppinger

Bing Sings vom 6. bis 9.12. jeweils täglich um 20.30 Uhr in der Studiobühne Berlin, Reinickendorfer Straße 33, Wedding.