Die Nacht der Degen und Mäntel

In Glasgow wurde der Europäische Filmpreis vergeben  ■ Von Roger Willemsen

Der Schatten Amerikas liegt schwer über Glasgow: Die 15 in den britischen Kinos erfolgreichsten Filme der Woche stammen alle aus den USA. 58 Prozent ihrer Filmproduktionen exportieren die Staaten nach Europa, verliehen von konzerneigenen Firmen, gezeigt in konzerneigenen Kinos. Ein Prozent der europäischen Produktion wird nach Amerika exportiert. Kein Zweifel: Es geht nicht mehr um das Erstarken der europäischen Filmwirtschaft, es geht um ihr Überleben. Der „Felix“ soll der „Rivale und Mitbruder“ des „Oscar“ sein? Als Mitbruder gehört er einer anderen zoologischen Klasse an, als Rivale ist er kaum satisfaktionsfähig. Die Mitglieder des britischen Komitees der European Cinema Society zeigen sich — was bleibt ihnen übrig? — beschwörend europatriotisch. In der wichtigsten Sache sind sie sich einig: Der europäische Film darf nicht sterben, er hat Wert, er ist reich differenziert, spricht viele Form- und Bildsprachen, besitzt einen eigenen, genuinen Charakter. Ihm muß geholfen werden, mit Filmpreisen wie mit Koproduktionen.

David Puttnam, Ex-Chef der Columbia, empfiehlt den Osten als Remedium gegen die USA und verweist auf seine kommende Gemeinschaftsarbeit mit Istvan Szabo. Als sich ihm darauf der „hochverehrte“ Andrzej Wajda jedoch ad hoc zum Kauf anbietet, lacht Puttnam, bestenfalls indifferent. Wajda wiederum macht die Nouvelle Vague für ein elitäres, publikumsscheues Kino verantwortlich, dagegen bekundet Ben Kingsley sein Interesse, „to tell a story not to sell a story“.

Widersprüche, über die man nicht spricht. Einig sind sich alle im Appell an die Presse, das Publikum für den europäischen Film zu begeistern. Es sei doch unmöglich, eifert Puttnam, daß sein Film Memphis Belle bloß deshalb nur mit Mühe Startpublizität erhalten habe, weil die Presse noch nicht wußte, ob er ein Hit werden würde. Richtig. Auch richtig, daß er weit mehr Presse bekam, als er verdiente, denn warum sollte diese Presse einen militaristischen Schinken stützen, bloß weil er europäisch ist, was in diesem Fall bedeutet, daß er noch schlechter ist als die amerikanischen Pendants? Widersprüche rund ums Geld. Man konnte nicht fehlgehen in der Vermutung, daß sie sich in der Entscheidung der Jury unter dem Vorsitz von Ingmar Bergman (Deborah Kerr, Suso Cecchi d'Amico, Jeanne Moreau, Margarethe von Trotta, Theo Angelopoulos, Andrej Smirnov) wiederfinden würden.

Und sie fanden sich. Zunächst aber kam das Filmspektakel. Höhepunkt des Kulturjahres 1990 in Glasgow, glanzvoll, glänzend organisiert, in der gerade fertiggestellten Royal Concert Hall feierlich plaziert, vom Büro des Filmpreises und Channel Four straff organisiert, und die Äußerlichkeiten erinnern wirklich von fern an Hollywood: Die Stars fahren in Limousinen vor, die Fotografen fotografieren, die Filmer filmen, die Toiletten der Herren sind bezaubernd anzusehen. Dafür gibt es keine Umschläge, keine Dankesreden, keine Balletts, keine Comics, statt dessen Porträts und Selbstkommentare, Einsichten in die Sparten des Filmemachens und filmhistorische Erinnerungen. Überreicht wird der von Markus Lüpertz geschaffene Felix von einer eigens dreißig Meter über die Bühne schreitenden Berühmtheit, der gleich anschließend die Aufgabe zukommt, den Preisträger/die Preisträgerin, notfalls unsanft, jedenfalls sofort wieder abzuführen. Unter den hierzu Auserwählten: Roland Gift, unbeeindruckt, Victoria Abril, gut gelaunt, Tilda Swinton, fragil, Stephen Frears, amüsiert, Max von Sydow, holzig, Jeanne Moreau, auratisch, Ben Kingsley, wach, Nastassia Kinsky, hinreißend.

Deborah Kerr schilderte in ihrer Eröffnungsansprache die immensen Schwierigkeiten der Auswahl, bewegt und bewegend. Daß zumindest die Filmkritiker im Publikum nicht mit allen Resultaten einverstanden waren, hängt schon damit zusammen, daß sie nicht gefragt wurden. Zwar ist das europäische System (Vorauswahl durch respektable, Endauswahl durch berühmte Filmschaffende) befriedigender als das amerikanische, wo Hunderte, oft seit langem dem Film fernstehende Akademiemitglieder ihre Stimme abgeben, trotzdem liegen im Alter der Juroren und in der Ausrichtung ihrer eigenen Arbeit gewisse Vorentscheidungen, die sich bei einer numerisch so kleinen Gruppe stärker bemerkbar machen können.

So ist die Entscheidung für Kenneth Branagh und seinen Henry V (Junger europäischer Film des Jahres und Europäischer Schauspieler des Jahres) sicher weniger von der innovatorischen Brillanz dieser Shakespeare-Verfilmung geleitet, sondern eher von der barocken Voluptas der Historie und der Vielstimmigkeit des Garns, das da gesponnen wird, und bei dem Preis für den mehrfach nominierten Cyrano de Bergerac (Europäischer Production Designer des Jahres) bleibt zumindest die Frage, ob diese Auszeichnung regelmäßig an sogenannte Kostümfilme gehen muß. Weitgehend in dieses Genre gehört auch Offene Türen von Gianni Amelio (Europäischer Film des Jahres), ein Gerichtssaaldrama aus dem weiteren Umkreis der Epen zum Thema „Was Sie schon immer über den Faschismus wußten“. Seine weitgehend herkömmliche Formulierweise wird getragen durch die schauspielerischen Leistungen von Gian Maria Volonté (Sonderpreis der Jury, empfangen unter Tränen) und Ennio Fantastichini (Europäische Entdeckung des Jahres).

Daß Offene Türen zusätzlich auch den Preis für die beste europäische Kamera des Jahres erhielt (Tonino Nardi), wird viele verwundern, die Goran Nilssons ungleich frischere und ambitioniertere Arbeit im gleichfalls nominierten Schutzengel gesehen haben. Dieser letzte, mit acht Nominierungen befrachtete Film mußte sich schließlich mit dem Preis für die beste Nebendarstellerin (Malin Ek) begnügen, während der Preis für die beste europäische Schauspielerin, wie schon in Berlin 1988, an Carmen Maura ging für ihre Rolle in Carlos Sauras Drama aus dem Spanischen Bürgerkrieg Ay Carmela.

Große Aufmerksamkeit und vielseitige Anerkennung erhielt in Glasgow der Osten, dem Sir Richard Attenborough in seiner Abschlußrede noch einmal gut antisozialistisch unter die Arme griff. Polen und Sowjetrußland gehörten zu den am meisten ausgezeichneten Ländern der Veranstaltung: Europäischer Nebendarsteller des Jahres wurde Dimitrij Pevsov für seine Rolle in Mutter, Europäischer Drehbuchautor Vitaly Kanevsky für Ersterbe — sterbe — auferstehe, der Dokumentarfilm des Jahres wurde Skersiela von Ivars Seletskis, und einen Sonderpreis verlieh das Britische Filmkomitee an die Vereinigung der sowjetischen Filmemacher. Für sein Lebenswerk schließlich zeichnete es Andrzej Wajda aus, der diese bisher größte Auszeichnung seines Werkes mit Jahrzehnten Verspätung entgegennahm.

War es also eine große Nacht des europäischen Kinos? Es war, nach dem Desaster von Paris im letzten Jahr, eine in Glasgow gut untergebrachte, sorgsam organisierte, geschickte, wenn auch (wie Richard Attenborough zugab) manchmal ein wenig „klinisch“ inszenierte Nacht. In der Substanz allerdings wurde auf die wirklich kontroversen Werke eher verzichet, radikale Filmsprache vernachlässigt; so vor allem, und zu mancher Empörung, auf Kaurismäkis düsteren Streifen Das Mädchen aus der Streichholzfabrik, auf Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, auf Eric Rochants Eine Welt ohne Mitleid und, um auch einen Deutschen zu nennen, der wohl zu Unrecht nicht einmal die Vorrunde überstand, auf Rosa von Praunheims Leben und Sterben in New York — sämtlich extreme Filme, die anderen Filmen nicht ähnlich sehen, aber ihrer Zeit. Aus der Tatsache, daß sie übergangen wurden, ließe sich der Schluß ziehen: Hollywood bestimmt das europäische Kino bis in seine unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse offenbar notwendigen Kompromisse.

Als ich deshalb angesichts eine von Cyrano bis zu Henry V. von Saura bis zu Amelio fast lückenlosen Folge von Historienwerken in der abschließenden Pressekonferenz von der Jury wissen wollte, ob sie im Kostümfilm das repräsentative Kino des zeitgenössischen Europa sehen, war die Verlegenheit greifbar. Dann half man sich mit der halben Wahrheit: Es seien eben keine anderen Filme eingegangen. Zurück vor dem Hotelfernsehen fand ich sie dann alle wieder: Die modernen US-Cops und Detektive, die doofen Babies und bösen Banker. So hohl sie oft auch sein mag, eine Qualität hat das amerikanische Kino dem zeitgenössischen europäischen offenbar voraus: Es hat Gegenwart.