In den USA wächst die Zahl verweigerungswilliger Reservisten

■ Erst im Angesicht einer Konfrontation mit dem Irak besinnen sich viele auf die Folgen ihrer leichtsinnigen Verpflichtung im Tausch gegen Arbeit und Ausbildung

Marine Corporal Jeffrey Paterson war einer der ersten, der nach der Entsendung von US-Truppen an den Golf seinen Militärdienst verweigerte. Am 17. August stellte er auf Hawaii Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer („conscientious objector“). Seine Vorgesetzten und der angerufene Richter entschieden, daß Paterson dennoch bis zu seiner Anerkennung dem Ruf der Streitkräfte nach Saudi-Arabien folgen müsse. Da blieb der 22jährige Paterson, der sich weigert, am Golf „für Profite und billiges Öl“ zu kämpfen, beim Abflug seiner Einheit einfach im Hangar sitzen. Und ehe er sich's versah, saß er dann im Militärgefängnis von Pearl Harbor.

Am 18. Oktober, den US-Friedensgruppen zum „Jeff Paterson- Tag“ erklärt hatten, versammelten sich am New Yorker Washington Square rund 30 Aktivisten, um zusammen mit Vietnamveteranen für die heute verweigernden Reservisten eine Öffentlichkeit zu schaffen. Auch sollten die alten, seit der Abschaffung der Wehrpflicht 1973 ruhenden, Beratungsnetze für Kriegsdienstverweigerer wieder neu belebt werden. Das von den Quäkern gegründete „American Friends Service Committee“ (AFSC), das abtrünnige Militärs schon seit 73 Jahren betreut, verzeichnete in diesen Tagen eine wachsende Zahl von Anrufen und Briefen verweigerungswilliger Reservisten. Am 20. Oktober versammelten sich dann in New York und 15 anderen Städten der USA zum ersten Mal Zehntausende, um gegen die Golfpolitik der Bush-Administration zu protestieren. Ungleich schneller als im Vietnamkonflikt hatte sich damit innerhalb wie außerhalb der Streitkräfte eine Opposition gegen das neueste militärische Abenteuer der USA formiert.

Seitdem hat beim AFSC bisher rund tausendmal das Telefon geklingelt. Aus den Anrufen, sagt Harold Jordan, Koordinator für „Jugend und Militär“, könne er ersehen, in welchem Landesteil gerade die Reservisten eingezogen würden. „Vor zwei Wochen war es Louisiana, letzte Woche Missouri.“ Wie viele der Auskunftsuchenden am Ende wirklich den Dienst mit der Waffe verweigern oder einfach untertauchen, weiß niemand genau. Militärsprecher reden auf Anfrage routinemäßig von „einer Handvoll von Reservisten“. Harold Jordan hält dies für eine Untertreibung. „Mittlerweile setzen die Verweigerungen dem Militär schon ganz schön zu.“

Die Gründe, warum vor allem die Reservisten aus der nach Vietnam geschaffenen Freiwilligenarmee angesichts Saddam Husseins plötzlich aussteigen wollen, sind sehr verschieden. Einige, vor allem kleine Geschäftsleute, fürchten bei einem längeren Aufenthalt am Golf um ihre mühevoll aufgebauten Kleinbetriebe. „Andere“, so der Rechtsanwalt Ron Kuby, „fragen mich: Warum soll ich denn für den Emir von Kuwait sterben?“ Und wieder andere, vielleicht die meisten, denken jetzt zum ersten Mal an die Folgen ihrer leichfertigen Verpflichtung im Austausch gegen die von der Armee gebotenen Ausbildungsmöglichkeiten und Sozialleistungen.

„So blöd kann doch keiner sein“

Viele der Unterklassen-Kids haben ihre Reservistenkarriere unterschrieben, weil ihnen nach vier Jahren bis zu 25.000 Dollar für eine College-Ausbildung winken, die sie sich sonst nie leisten könnten. „Die andere Seite, die Krieg bedeuten kann, habe ich damals einfach nicht gesehen“, erklärte ein 18jähriger Reservist auf der New Yorker Großdemonstration einigen verwunderten Reportern. Als diese nachhakten: „Come on, so blöde kannst du doch nicht gewesen sein!?“ wußte er nur verschämt mit dem Kopf zu nicken.

Bill Galvin vom „Central Committee for Conscientious Objectors“ (CCCO) erklärt diese Naivität einer ganzen Reservistengeneration mit dem Rekrutierungsverfahren zu Friedenszeiten. Viele der 80.000 bis heute einberufenen Reservisten hätten sich auf eine Anzeige hin beworben, die mit der Formulierung lockte: „Laß uns ein wenig Geld hinzuverdienen und dafür einmal im Monat etwas Ungewöhnliches tun.“

Einer Armeestudie zufolge sind selbst unter den regulären Rekruten 39 Prozent dem Heer nur zur Finanzierung ihrer College-Ausbildung beigetreten. 26 Prozent versprachen sich eine bessere Berufsausbildung und gutes Geld; ganze zehn Prozent zogen die Uniform zur Verteidigung des Vaterlands über. „Und den Reservisten“, so Galvin, „hat erst recht keiner etwas vom Krieg erzählt“.

Diese Praxis hat sich seit dem 2.August verändert. Seit September hat die Army ihr Rekrutierungssoll um zwölf Prozent verfehlt, die Navy gar um zwanzig Prozent. Eine Ausbildung, die man sich womöglich erst im Kampf gegen irakische Truppen verdienen muß, scheint wenig verlockend. Vor allem die Eltern, so beklagen sich die Rekrutierungsoffiziere draußen im Land, verhindern in diesen Tagen so manche Reservistenkarriere des gerade volljährig gewordenen Nachwuchses.

Hinter der Skepsis vieler Familien und der mangelnden Kampfeslust manches Reservisten mag auch die plötzliche Einsicht stehen, daß 17 Jahre nach Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht jetzt am Golf ein noch ausgeprägterer „Klassen“- Kampf droht als in Vietnam. Denn diejenigen, die in Washington leichtfertig zum Krieg aufrufen — das weiß auch die untere Mittelklasse Amerikas — haben sich noch nie aus Geldgründen als Rekruten oder Reservisten verdingen müssen.

Der für Montag angesetzte Prozeß gegen den ersten Reservisten-Verweigerer mußte unterdessen verschoben werden. Die Zeugen, die Corporal Patersons illegalen Sitzstreik beim Abflug sahen, warten in Saudi-Arabien auf ihren Einsatz. Rolf Paasch, Washington