KOMMENTAR: Ohne Gewähr
■ Wiesbaden legt die neuen Unfallzahlen vor
Einmal im Monat werden die Arbeitslosen gezählt, einmal im Jahr werden die entnadelten Bäume in den deutschen Forsten bilanziert, und einmal im Jahr sind auch die Unfallopfer auf unseren Straßen an der Reihe. Ein Ritual. Und doch ist diese Verkehrsstatistik in den letzten Jahren zunehmend politischer geworden. Das Schicksalhafte und fast Naturgesetzliche hinter den Zahlenkolonnen verschwindet allmählich und heraus kommt ein selbstgemachtes und gewolltes Gemetzel. Der Sprung vom „Vermischten“ auf die Seite 1 der Zeitungen kennzeichnet die mediale Karriere dieser Unfallzahlen. Mit der langsam wachsenden Emanzipation vom Auto beginnt sich die Gesellschaft auch ihrer Verantwortung für die Toten und Verletzten auf den Straßen bewußter zu werden.
In diesem Jahr ist der sprunghafte Anstieg der Unfälle in der ehemaligen DDR die auffälligste Ziffer der Jahresbilanz. Das sollte uns nicht wundern. Neben den Zigaretten- und Biermarken hat sich auch die Raserei angeglichen. Von dem rechten Anarchisten und Bundesverkehrsminister Friedrich Zimmermann (Paulaner-Pils) angeführt, hat der PS-Brutalismus den Sprung in die neuen Bundesländer geschafft und die Verkehrsregeln zugunsten von Ellenbogen und Turbo-Flügeln außer Kraft gesetzt. Die Quittung präsentiert jetzt das Statistische Landesamt. Und Zimmermann? Für die Zahlen können wir keine Gewähr übernehmen — und keine Verantwortung. Aber mit jeder Rede, mit der der Minister für die Aufhebung der „sozialistischen Gängelung“ durch Tempo 100 und Null Promille gestritten hat, hat er auch die Trendwende auf den Straßen der ehemaligen DDR beschleunigt und die Unfallzahlen nach oben getrieben.
Zimmermann geht — Gott sei's gedankt — endlich aufs Altenteil. Der neue Verkehrsminister übernimmt ein Schlüssel-Ressort für den viel zitierten ökologischen Umbau der Republik. Gerade in der Verkehrspolitik wird sich zeigen, wie zivil und wie solidarisch diese Gesellschaft ist. Und wie viele Tote sie bereit ist, in Kauf zu nehmen.
Jeder kennt zumindest einen Menschen, der schon einmal in einen lebensgefährlichen Verkehrsunfall verwickelt war. In keinem anderen Lebensbereich würden wir ein ähnliches Gemetzel in Kauf nehmen. Das liegt vor allem daran, daß wir selber Auto fahren und daß die Unfälle gleichmäßig über Zeit und Land verteilt sind. Jeden Tag ein bißchen wird verkehrsgeopfert. Vielleicht hilft die Vorstellung weiter, all diese Unfälle würden alljährlich auf einmal stattfinden. Ein einziger Knall mit 11.400 Toten und 510.000 Verletzten.
Es gibt viele Arten, mit den Unfallzahlen fertig zu werden. Die falscheste: Man kauft sich kein Auto mehr, sondern gleich einen Panzer, auch Offroad-Fahrzeug genannt, oder eine 500-PS-Kiste mit viel „Reserven“. Doch bei aller Aufrüstung wird man weder dem Stau noch der Unfallstatistik davonfahren können. Manfred Kriener
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