Lehrjahre der Galle

Jens Sparschuh über Goethe, Eckermann und marxistische Seelenkritik  ■ Von Hubert Spiegel

Er sei ein weit über die Grenzen seines Landes unbekannter Autor, pflegte der Ostberliner Schriftsteller Jens Sparschuh über sich zu sagen. Seine Heimat ist das Land, in dem zwar nichts funktionierte, aber alles möglich war. Ein unmögliches Land also, das folglich auch die Landkarten räumen mußte. Aber erst nach ihrem Verschwinden rückte die DDR uns wirklich nahe und beschäftigt seitdem, paradox wie eh und je, die Gemüter mehr noch als zuvor.

In Anlehnung an Flaubert hat Sparschuh seine Trilogie Lehrjahre der Galle genannt. Die beiden ersten Teile liegen vor, der abschließende dritte Band, Der Schneemensch, ist zur Zeit noch in Arbeit. KopfSprung, der zweite Band, ist Anfang dieses Jahres erschienen, nachdem das Manuskript dreieinhalb Jahre beim Verlag „Der Morgen“ herumgelegen hatte. Wegen Papiermangels. Als Sparschuh im November 1989 bei einem Literatentreffen in Westdeutschland aus seinem Roman Der große Coup vorlas, plagten ihn Gewissensbisse. „Aus den geheimen Tage- und Nachtbüchern des Johann Peter Eckermann“, so der Untertitel des ersten Teils der Trilogie, handelt vom fernen 19.Jahrhundert, von Goethe und seinem getreuen Eckermann und vermittelt „Einblicke in das Innenleben eines Taschenrecorders“, wie Sparschuh damals sagte. „Drüben brennt die Luft, und ich lese hier von Goethe“, hatte Sparschuh selbstkritsch moniert. Mit der DDR hat das Buch nicht viel zu tun, mit den umwälzenden Veränderungen noch weniger.

Es geht um Johann Peter Eckermann, in dem der bissige Heine ein bemitleidenswertes Oper der unvollkommenen Schöpfung sah — für Heine war Eckermann nur ein Papagei ohne Federn. Und es geht um den „großen Coup“, wie das Kennwort für Goethes wohlinszenierten Abgang von der Weltenbühne lautet. Bekanntlich bestand schon früh zwischen den ungleichen Gesprächspartnern Einverständnis darüber, daß Eckermann die Gespräche nach Goethes Tod publizieren sollte. Sparschuh spitzt die Angelegenheit aber noch zu und läßt den großen Pragmatiker Goethe schon bei Lebzeiten nach seinen letzten Worten suchen: „Es möchte schon ein erklärendes Wort beigefügt sein bei unserm Abgang von der Weltenbühne. Ein letzter Satz, das ist es... Noch über den Tod hinaus den Leuten etwas zum Denken aufgeben.“ Zumal der Meister weiß, daß sich nach seinem Tode niemand finden würde, ihm einen angemessenen Nachruf zu schreiben: „So ein schönes Gedicht, wie ich es damals auf Schillers Tod gemacht habe, das macht mir doch keiner nach. Alles muß ich alleine machen!“ So muß Eckermann, neben seinen zahlreichen anderen Verpflichtungen für Goethe, nun also dessen ganzes Werk auf mögliche „Coup-Sätze“ durchgehen und die Ausbeute zur Begutachtung vorlegen. Zwanzig Jahre nach Goethes Tod setzt Sparschuhs Geschichte ein. Der alte Eckermann sitzt vor seinem Schreibtisch und verfaßt das Vorwort zu seinen bislang geheimen Tage- und Nachtbüchern, die er nun, da er sein Ende nahe glaubt, doch noch veröffentlichen will. Mit dem Tod des Mentors begann für Eckermann eine schlimme Zeit. Er fühlte sich in Weimar „wie im Exil“, leistete kärglich entlohnte Frondienste in der Bibliothek, geriet mit seinem Verleger in einen Streit, der erst vor Gericht entschieden werden konnte und führte ein Leben, das er selbst als „ein kümmerlichst trauriges Schattendasein“ bezeichnet hat. Er starb 1845, 62jährig, vergessen und in Armut. Noch ein Jahr vor seinem Tod bot er seinem Verleger einen vierten Band seiner Gespräche mit Goethe an. Eine Offerte, die er mangels Material nie hätte einlösen können.

Bei Sparschuh sind bereits Eckermanns Erinnerungen an die Zeit mit Goethe mitunter recht bitter, und die Gedanken an die früheren Gespräche rufen gemischte Gefühle hervor: „Das war fesselnd, gleichermaßen für uns beide. Nur war er danach, befriedigt auf und ab laufend, sehr viel freier als ich, der ich dann zumeist sehr reglos und wie vom Faden des Gespräches fest umschlungen vor ihm auf dem Stuhle saß, dem oder jenem halbverstandenen Gedanken stille nachdenkend.“

Sparschuh präsentiert uns einen altersmüden Eckermann, der sich seiner eigenen Vergangenheit hinterfragend vergewissern will und sich anschickt, hinter die Fassaden zu blicken, die er doch selbst errichtet hat. Und dies mit großem Erfolg, wie er gesteht. Nie habe ein Rezensent gefunden, „daß diese offiziösen ,Gespräche‘ zuvörderst das Werk eines begnadeten Theaterdichters waren, der es meisterlich verstand, die zwei Protagonisten der Komödie, die sich in immergleichen Auftritten („Mittags bei Goethe“!) gefallen, in ein lebendiges Gespräch zu verwickeln, ja diese Gespräche auf dem Papier erst zu entwickeln.“ In diesem Punkt dürfte Sparschuh von der historischen Wahrheit nicht allzu weit entfernt sein. Eine Tagebucheintragung des historischen Eckermann vom 11. März 1828 lautet: „Abends bei Goethe, interessantes Gespräch, Produktivität, Genie, Napoleon, Preußen.“ Vierzehn Jahre später, also 1842, nimmt sich Eckermann vier Wochen Zeit und verfaßt anhand dieser vier Stichworte ein etwa elf Seiten langes Gespräch, das er sogar außerhalb der Buchausgabe seiner Gespräche mit Goethe veröffentlicht und das es zu einiger Berühmtheit bringen sollte.

Der historische Eckermann schrieb in der Vorrede zum dritten Teil seiner Gespräche: „Ich hatte es mit einem Helden zu tun, den ich nicht sinken lassen durfte.“ Was Eckermann aus diesem Grunde verschwieg, Sparschuh fördert es zutage. Daß Goethe von Beginn der Bekanntschaft mit Eckermann an jenen „reinsten und strengsten Egoismus“ walten ließ, von dem er selbst mitunter sprach und der als Vorrecht des „zielbewußten Großen“ gilt, macht Sparschuh mit viel Humor, aber ohne jede Gehässigkeit deutlich. Wir erleben den verzweifelten Eckermann im stillen Kämmerchen und den großen Goethe mitunter auch in seinen weniger lichten Augenblicken; wir lesen, in den Text eingeflochten, die Originalbriefe der Johanne Bertram, der langjährigen Verlobten Eckermanns, die Goethe in zunehmendem Maße mehr als Hemmschuh denn als Freund und Förderer ihres Bräutigams betrachtete. Wir prüfen mit Eckermann den Fortgang des großen Coups, aber mit der gleichen Gewissenhaftigkeit auch die Frage, ob der Kauf von Schnallenschuhe oder von Schnürschuhen vorteilhafter sei.

Jens Sparschuh hat ein ausgesprochen vergnügliches Buch über Eckermann und Goethe geschrieben, das durch seinen hintersinnigen Humor und ein genaues Sprachempfinden besticht. Sparschuh trifft den Eckermannschen Ton, und er weiß ihn zu halten. Und dennoch: So wie der historische Eckermann von seinen Aufzeichnungen sagte, „Dies ist mein Goethe [...], wie er sich mir darbot“, so stellt uns Jens Sparschuh hier seinen Eckermann vor, wie er ihn sieht.

Der große Coup war Sparschuhs Romanerstling. Bislang schrieb der promovierte Philosoph, der in Leningrad Logik studiert hat, vorwiegend für den Rundfunk, veröffentlichte aber auch Lyrik und Prosa in Zeitschriften und Anthologien. KopfSprung · Aus den Memorien des letzten deutschen Gedankenlesers ist der zweite Teil der Trilogie. Und schon der Titel läßt eine gewisse Seelenverwandtschaft der Protagonisten erahnen. Eckermann notierte und überlieferte fremde Gedanken, Rudolf Rypschinski liest sie. Er ist ein Grenzgänger und Kopfspringer, ein Gedankenleser und Seelenwanderer, den vor zweieinhalbtausend Jahren in Sparta, der DDR der Antike, das Los der Unsterblichkeit ereilt hat. Jetzt entnimmt er seine Lektüre den Köpfen der Mitarbeiter des „Instituts für marxistische Seelenkritik“, das einer traditionell staatstragenden Aufgabe nachgeht. Es soll nachweisen, das nicht ist, was nicht sein darf.

Sparschuh versteht seinen Roman als „ein Buch über Verdrängungen, wie man mit ihnen lebt und allmählich fast weltblind wird“. Das klingt irgendwie klassisch-zeitlos, aber auch sehr allgemein und ein wenig, als wolle Sparschuh darüber hinwegtäuschen, daß der KopfSprung auch ein Zeitsprung ist, eine Reise in die Vergangenheit der DDR. KopfSprung ist, übrigens ganz im Gegensatz zum Großen Coup, ein Buch, das nur in der DDR geschrieben werden konnte. Wenn Sparschuh von einem „seltenen Fall der Hyperästhesie der Sinnesorgane“ spricht, meint er nichts anderes als die Fähigkeit, in verschlossenen Briefen zu lesen: „Eine Kunst, die lange im verborgenen keimte, später aber, dank uneigennütziger staatlicher Förderung, zu voller Blüte gelangte!“

Der gelernte Logiker Sparschuh weiß, daß man mit schlichter Geradlinigkeit in vielen Fällen kaum die Kurve kriegen kann. Folglich hat er ein vertracktes Buch geschrieben, hintersinnig bis zur philosophischen Spitzfindigkeit. Sparschuh und sein Rudolf Rypschinski sind zwei notorische Haarspalter, aber von der liebenswerten Sorte. Doch, das gibt's. Wer's nicht glauben will, soll lesen.

Jens Sparschuh: Der große Coup · Aus den geheimen Tage- und Nachtbüchern des Johnann Peter Eckermann. Roman. Buchverlag Der Morgen, geb., 213 Seiten.

Jens Sparschuh, KopfSprung · Aus den Memorien des letzten deutschen Gedankenlesers. Roman. Buchverlag Der Morgen, geb., 278 Seiten.