Zum Thee bei Dr.Faustus

Thomas Manns Tagebücher 1946 bis 1948 und sein Faustus-Roman  ■ Von Hans Dieter Heimendahl

Am 7.Juni des Jahres 1946 unternahm Thomas Mann in seinem kalifornischen Exil „Mittags [eine] Ausfahrt mit K.“, seiner Frau Katja, ruhte eine Weile auf dem „Klappsessel“ und entspannte sich nach der Rückkehr mit einem „Thee bei K.“. Am 18.August klagte er über „etwas Halsweh vom nachmittäglichen Tragen kurzer Unterhosen“. Am 31.August attestiert der Dichter gestört das Versagen seines Eversharps, seines Lieblingsschreibgeräts, findet jedoch im Verlauf des Tages wohl eine Lösung für das Problem, denn das Tagebuch fährt fort: „Schrieb mit der Füllfeder am Kapitel.“ Am Dienstag, dem 26. November ist Thomas Mann etwas „mit K. u. dem Pudel in den Alleen der Ozean Promenade gegangen“.

Zweifellos ist der Spott wohlfeil, zweifellos müssen wir all das nicht wissen. Man erwartet ja auch im Tagebuch eines Siebzigjährigen keine ausschweifenden Phantasien mehr, keine existentiellen Stellungskriege oder grandiosen Skizzen unvollendeter Romane. Aber mehr als pedantische Aufzählungen der Tagesereignisse, falls man von Ereignissen überhaupt zu sprechen geneigt ist, konnte man sich vom dem Sprach- magier und Entlarvungskünstler Thomas Mann doch wohl erhoffen. Doch nichts von alledem. Des Zauberers Tagebücher sind ein im Stil einer Einkaufliste geführter Terminkalender. Drei Viertel der selten zehn Zeilen überschreitenden Eintragungen sind knappe Antworten auf immer gleiche Fragen des Dichterfürsten an sich selbst wie diese: Wie durfte ich ruhen? Wen mußte ich zum Thee empfangen?

Des Dichters akribische „Tagesrechenschaften“ machen nicht viele Worte, verzeichnen empfangene oder gemachte Besuche, erhaltene oder geschriebene Briefe, Schlagzeilen der Tagespresse und dokumentieren knapp den Fortgang der Arbeit — bis zum Januar 1947 am Dr.Faustus, dann an Vorträgen und schließlich amErwählten und der Entstehung des Dr.Faustus. Obwohl in Thomas Manns Tagesablauf alles auf die Bedingungen der Produktion abgestellt ist und auch die Entspannungsphasen — annährend tägliches Plattenkonzert und Lektüre — nicht gerade mit wesensfremden Beschäftigungen verbracht wurden, spricht die genaue Dokumentation der vertanen Zeit beredt von der Konzentration auf die Arbeit. Morgenkaffee („wohlschmeckend, aber schädlich“), Baden („trotzdem geschwitzt“) und Zigarre (ohne wäre „Reinheit und Langeweile“) bilden das Gerüst um die Stunden am Schreibtisch. Diese Arbeitsweise hat Methode. Der Schriftsteller Thomas Mann wartet nicht in überhitzten Nächten im Café auf die Inspiration, sondern treibt seinen Roman mit stoischer Geduld vorwärts („seit meiner Rückkehr von Chicago [im März] 90 Seiten“, notiert er im Oktober). Lediglich nach dem Abschluß des Dr. Faustus am 29.Januar 1947 erlaubt sich der Dichter, „bewegt immerhin“ zu sein und am Abend ein Gläschen Sekt zu trinken, während man vorher vom fortschreitenden Roman wenig mehr als die Nummer des aktuellen Kapitels erfuhr. Den Abgrund der deutschen Künstlerseele seines Doktor Faustus Adrian Leverkühn lotet Thomas Mann streng nach der Uhr aus.

Seine Tagebücher sind der Resonanzraum seiner Selbstdisziplin. Sie spiegeln das für Thomas Mann nicht immer selbstverständliche Bekenntnis zur bürgerlichen Arbeitsethik, das den Künstler vor seinem „Tod in Venedig“ bewahrte. Durch die entlastenden Stichworte (Dankesbriefe für übersandte Bücher, Vorworte für Buchausgaben oder telegrafische Glückwünsche), hindurch wird deutlich, wie sich Tag für Tag bei diesen Notizen ein Forum der Kontinuität entwickelt hat.

Durch die Lektüre der monotonnen Tagesabläufe hinreichend sensibilisiert, springen die außergewöhnlichen Ereignisse direkt ins Auge. Hinter beiläufigen Worten tauchen Spannungen auf, mit denen der Autor zwar schon lange lebt, die für ihn aber noch nicht an Unmittelbarkeit verloren haben. Auf seiner Europareise notiert Thomas Mann am 18. Juli 1947 in Graubünden nach der Lektüre erster Druckfahnen des Dr. Faustus:

„Mit K. über die ,Morde‘ des Buches: Reisi, Annette, Preetorius, Geffcken. Schlimm, schlimm. Das rücksichtslos Autobiographische (unverleugnet) zusammen mit dem Montagehaften macht [den] tief erregenden Radikalismus des Ganzen.“

Mit den „Morden“ denkt Thomas Mann an die freie und oft rücksichtslose Porträtierung von Freunden im Roman (Wer genauer wissen will, wer wem entspricht, konsultiert am besten den ausgezeichneten Kommentar der Herausgeberin Inge Jens, der kaum eine Frage offen läßt und der beste Forschungsapparat in der Thomas-Mann-Phiolologie überhaupt ist). An den erbarmungslos ironischen Charakterisierungen, etwa Annette Kolbs („von mondäner Häßlichkeit, mit elegantem Schafsgesicht“) oder Hans Reisigers („das Potentielle war seine Domäne“), wird deutlich, wie die Sphäre des Bürgers Thomas Mann im gespannten Verhältnis zu der des Künstler steht, der aus seinem Privatleben unbedenklich sein Material schöpft. Im Dr.Faustus nimmt Adrian Leverkühns Pakt mit dem Teufel und die künstlerische Gestaltung dieser Thomas Mann vertrauten Aufopferung des Lebens für die Kunst auf. Die Distanz des Artisten, der schonungslos das Leben für die Kunst ausbeutet und sich damit selbst rücksichtslos einem fremden Ziel unterordnet, wählt Thomas Mann als Ausgangspunkt der großen Parabel, die den Weg der Deutschen in den Faschismus ins Bild setzen soll.

Diese Form der Annäherung muß dem heutigen Leser fremd erscheinen. Die Kategorien, mit denen Thomans Manns Dr.Faustus sich direkt- indirekt dem Faschismus nähert, wirken wie eine dunkle Ästhetisierung der Grausamkeit. (Gerade durch sein morbides Pathos scheint der Roman beim abgrundverliebten Szene-Setter der radikalisierten Moderne so eher Anziehung als Abstoßung hervorzurufen.) Schon bald nach seinem Erscheinen hat sich der Dr.Faustus wegen dieser ambivalenten Faschismusverarbeitung ideologiekritische Schelte zugezogen.

Der radikal-individualistische Blick auf den Zeitgeist ist Thomas Manns Stärke und Schwäche. Schon in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 versucht Thomas Mann aus seinem sehr persönlichen, ästhetisch-pessimistischen Konservativismus heraus, den Krieg Deutschlands mit einer an Schopenhauer und Nietzsche orientierten Aufklärungsopposition zu unterlegen, die zwar zeitgenössischen Tendenzen entgegenkam, in ihrer speziellen Ausprägung aber wohl nur für ihren Autor Gültigkeit hatte. Das Buch jedoch war ein Erfolg. Im Dr. Faustus wird der Nihilismus des Künstlers, der verächtlich auf den Schein des Lebens herabsieht, zum Modell deutscher geistiger Fehlorientierung. „Adrians Fall ist eine magisierte Intellektualität, deren Symbol das Magische Quadrat ist, und die unfruchtbar wäre ohne das hellisch Feuer unter dem Kessel“, notiert Thomas Mann am 24.Februar 1948. Sein Tagebuch dokumentiert, wie erwartungsvoll und zunächst auch unsicher der Autor die ersten Schritte seines Romans verfolgt. Jede Rezension wird vermerkt und kommentiert. Und obwohl Adrian Leverkühns Künstlerschicksal kaum dem der Menschen im Zweiten Weltkrieg entspricht, wird das Buch begeistert aufgenommen — der 'Tagesspiegel‘ spricht 1948 vom größten deutschen Romans seit Goethes Wilhelm Meister, Frankfurts Oberbürgermeister möchte den Faustus seiner Stadt gewidmet wissen, und Leser schreiben unter Tränen Briefe über die „lebensverlängernde Wirkung“ der Lektüre.

Gerade durch seine eigenwillige Akzentuierung des historischen Geschehens erreicht Thomas Manns Ironie eine psychologische Tiefenfühlung mit seiner Zeit, die bei den meisten der hochgelobten Formmetaphysiker der Moderne in erkenntnistheoretischen Entwürfen unterging. Vielleicht hätte man doch hier und da ein Subjekt behalten sollen. Und es muß entgegen aller Beweihräucherung intellektueller Exzentrik auch nicht gegen einen Autor sprechen, wenn er gelesen wird.

Der sarkastisch-ehrliche und zugleich ironisch-liebevolle Blick auf den einzigen Menschen, zu dem Thomas Mann trotz seiner fundamentalen Skepsis politischen Utopien gegenüber gefunden hat, kam der Gefühlslage der Kriegsgeneration sehr entgegen. Vor dem Hintergrund der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheinen Pläne mit der Geschichte den einen als Drohung, den anderen als schöner Traum, allen jedoch als undurchführbar. Der Glaube daran, daß Menschen jemals in solidarischer Verantwortlickeit Geschichte umwälzen würden, war nachhaltig erschüttert bis in die Grundfesten des Menschheitsbildes hinein. Nun, vielleicht wird Thomas Mann nach der deutschen Vereinigung ja eine neue Renaissance erleben.

Thomas Mann: Tagebücher 28.5. 1946 - 31.12. 1948, herausgegeben von Inge Jens, Frankfurt/M., S. Fischer, 128 D-Mark.