Nur ein Phyrrus-Sieg für Kohl

■ Peter Glotz über die Zukunft der SPD und ihren Kandidaten INTERVIEW

taz: Hat Sie das SPD-Ergebnis der Bundestagswahlen überrascht?

Peter Glotz: Nein. Ich habe in den letzten Wochen vor der Wahl zwar gemerkt, daß wir anziehen, aber ich war mir immer im Klaren darüber, daß Kohl eine solide Mehrheit für seine Koalition behalten würde.

Warum zeigt sich die Parteispitze im Anschluß an die Wahl so unvorbereitet bei der Frage der Parteiführung?

Es hat in der Spitze der Partei Spannungen gegeben, die ganz offensichtlich dazu geführt haben, daß das Managment der Personalentscheidungen in der Vorphase nicht so abgelaufen ist, wie es im Normalfall ablaufen sollte.

600.000 Wähler sind von den Grünen zur SPD gewechselt. Will die SPD ein Profil als links-ökologische Partei gewinnen?

Natürlich hat Lafontaine immer das Profil gehabt, nachdrücklich eine ökologische Erneuerung zu fordern. Er hat übrigens auch ein Profil im Bereich der Abrüstungspolitik. Das hat in der Vergangenheit schon im Saarland dazu geführt, daß die Grünen nicht in den Landtag kamen und entsprechende Auswirkungen hatte es jetzt auch auf Bundesebene. Ein Großteil der Schuld liegt aber bei den Grünen selbst. Die Tatsache etwa, daß sie Leute wie Otto Schily aus der Partei vertrieben haben.

Lafontaines politisches Konzept lässt sich ja in Stichworten als das einer ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaft umschreiben. Grundlage dieses Konzepts war die West-Republik mit all ihrem Wohlstand.

Eindeutig.

Mit der veränderten Situation in Europa, in der erweiterten Bundesrepublik, wird auf sehr extreme Weise die ökologische Frage zur sozialen Frage. Ist Lafontaine für diese veränderte Situation überhaupt noch der richtige Kandidat?

In der Tat brauchen wir jetzt einen Deutschland-Plan, der eine Sanierung der DDR, auch eine ökologische, vorschlägt, und zwar eine neue Idustriepolitik. Man muß Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften an einen Tisch bringen und sie müssen eine groß angelegte Planung betreiben. Das bezieht sich auf die Ansiedlung von Industrie, das bezieht sich aber genauso auf die Bewältigung von ökologischen Altlasten und auf ökologische Vorsorge. Dazu ist nur die SPD in der Lage. Die jetzige Koalition, insbesondere mit einer so starken FDP, wird das nicht schaffen, weil sie blind auf den Markt vertraut. Und das ist in einer solchen Situation ökonomisch absoluter Irrsinn. Die SPD und Lafontaine sind sehr wohl zu einer solchen Politik in der Lage. Allerdings ist ein Programm „weiter so“, Fortführung dessen, was wir schon gesagt haben, nicht ausreichend. An einigen Punkten müssen wir zulegen. Wir brauchen großangelegte Infrastrukturinvestitionen in der DDR. Man muß einen genauen Plan machen, in wieweit die privat finanziert werden können und inwieweit sie staatlich finanziert werden müssen und inwieweit sie durch Sondervermögen beispielsweise der Deutschen Bundespost-Telecom finanziert werden können. Man muß sich gleichzeitig über den notwendigen, aber auch genau zu planenden Fortschritt im Bereich der Lohnerhöhungen verständigen. Das verlangt systematische Gespräche mit den Gewerkschaften. All das verlangt großangelegte — ich sage nicht Planwirtschaft, die braucht man nicht — Planungsprozesse innerhalb der Marktwirtschaft.

Aber zählt man eins und eins zusammen, dann ist ja die sozialökologische Reform-Alternative zu Kohls CDU und der FDP von Lambsdorff/ Genscher arg geschrumpft. Welchen Weg sehen Sie, um aus diesem Drittel-Ghetto herauszukommen?

Sie machen einen Fehler, wenn Sie nur von der Momentaufnahme der diesjährigen Bundestagswahl ausgehen. Ich gehe davon aus, daß Ende 1992 oder Anfang 1993 trotz der komfortablen Mehrheit von Kohl und Lambsdorff die Koalition aufgrund der ernsten Probleme in Ostdeutschland am Ende sein wird. Ich halte Kohls Sieg für einen Phyrrus- Sieg. Wir werden in den nächsten zwei Jahren eine konstruktive Opposition machen, der Regierung keine Knüppel zwischen die Beine werfen. Aber meine Vorhersage ist, sie werden dieses gemeinsame Konzept einer Industriepolitik auf der Basis der Orientierung der jetzt gestärkten FDP nicht finden. Deshalb hat es keinen Zweck jetzt herumzurechnen, wieviel Stimmen die SPD und wieviele das Bündnis 90 hat und wie die zusammenpassen. Ob die SPD gut genug ist, die Situation so vorzubereiten, daß sie den Wählern dann 92/93 als Alternative erscheint, das ist das Problem.

Das klingt so, als würde die SPD konzeptionell darauf hoffen, daß die soziale und ökonomische Misere in der DDR ihr Wähler zutreibt?

Das ist so eine reflexartige Frage, die immer wieder gestellt wird, danach, ob wir auf einen Crash hoffen...

...auf soziale Verelendung, die der SPD dann Stimmen bringt?

Wir hoffen keineswegs auf einen Crash und werden auch weiter Beiträge dazu leisten, daß er vermieden wird. Nur wenn sie mich fragen, wie es weitergehen wird, dann sage ich, daß ich nicht den Eindruck habe, das die jetzige Koalition die Kraft haben wird zu erkennen, daß dieses Problem nur mit Industriepolitik zu lösen ist.

Rechnen Sie noch mit der Grünen Partei oder gehen Sie davon aus, daß Lafontaine und die SPD die Grünen mit Ausnahme eines sektiererischen Restes schlucken wird?

Ich habe ja die jetzige Entwicklung schon für vier Jahre vorher vorhergesagt, mich jedoch deutlich im Termin geirrt. Natürlich kann ich nicht völlig ausschließen, daß es jetzt eine riesige Remedur innerhalb der Grünen gibt, d.h. daß man die Reformpolitik nach dem Muster Joschka Fischer zum herrschenden Paradigma der Politik der Grünen macht und die Linkssektierer aus der Partei herauskomplimentiert und auf die Weise dann doch wieder auf 5 Prozent kommt, aber das verlangt eine gewaltige Kraftanstrengung, und ob die gelingt, ist völlig offen. Wenn sie nicht gelingt, wird ein wichtiger Teil der grünen Wähler zur SPD gehen und ein anderer wird in den Nichtwählerbereich abdriften oder zur PDS und anderen Sektierern.

Hat denn Rot-Grün noch eine Perspektive oder ist es, wie Momper sagt, „ein auslaufendes Modell“?

Die Äußerung von Walter Momper ist mir zu spontan. Ich glaube in Niedersachsen und auch in Hessen, das heißt auf Landesebene, ist zukünftig durchaus auch weiterhin noch rot-grüne Zusammenarbeit denkbar. Aber auf der Bundesebene spricht in der Tat vieles dafür, daß es sich um eine Hoffnung handelt, die nie in Erfüllung gegangen ist und die auch in der Zukunft nicht in Erfüllung gehen wird.

Welches sind die eigentlichen politischen Fehler, die die SPD auf Landesebene in Berlin gemacht hat und die zu diesem Desaster für Rot- Grün hier geführt haben?

Das kann man nur beurteilen, wenn man in Berlin gelebt hat. Ich bin seit 1981 aus Berlin weg und nur noch zu Besuch in der Stadt.

Ich glaub' Ihnen kein Wort.

Das muß ich zur Kenntnis nehmen. Ich will zu Berlin keine Schlauheiten absondern.

Verringern sich Lafontaines zukünftige Chancen in der SPD durch seine Weigerung, Parteivorsitzender zu werden?

Selbstverständlich haben sie sich verringert. Ich persönlich bin dafür, daß Lafontaine wieder Kanzlerkandidat der SPD wird. Aber das ist jetzt nicht zu entscheiden. Nachdem er jetzt nicht zugegriffen hat, ist das Feld auch für andere offen. Ich bin im übrigen ganz klar dafür, daß man, wenn jetzt ein neuer Parteivorsitzender gewählt wird, dieser nicht nach dem Motto „in zwei Jahren kommt Oskar wieder“ gewählt werden darf. Wer immer es wird, man muß ihm eine Perspektive von 6 bis 8 Jahren geben. Das Gerede vom Übergangskandidaten macht ja jeden von vornherein kaputt. Das wäre nicht akzeptabel.

Sie waren lange Bundesgeschäftsführer ihrer Partei. Ist es vielleicht sogar sinnvoll, Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur nicht in einer Person zusammenzuführen?

Da kann man keine dogmatische Festlegung machen. Natürlich gibt es das Risiko, daß ein neu gewählter Parteivorsitzender in Gegensatz zum stellvertretenden Parteivorsitzenden und möglichen Kanzlerkandidaten Lafontaine getrieben wird. Und natürlich hat niemand, der sich dazu entscheidet, die wichtigsten Ämter, die einem jetzt angeboten werden können, nicht anzunehmen, ein Abonnement auf diese Ämter. Aber Lafontaine ist stark. Er ist gut genug, um auch diesen Fehler zu überleben. Interview: mtm