Giftgas und Justitia

Im indischen Bhopal leiden die meisten heute noch an den Spätfolgen der Gaswolke Auf den Verursacher, den US-Chemieriesen „Union Carbide“, kommt ein Revisionsverfahren zu  ■ Aus Bhopal Rainer Hörig

Seit jener grauenhaften Nacht, als Giftgaswolken über der Pestizidfabrik von „Union Carbide“ den tausendfachen Tod über Bhopal brachten, steht deren Produktionsanlage still. Alle Beschäftigten sind sofort entlassen worden. Jetzt haben Pflanzen und Tiere das verseuchte Werksgelände übernommen. Es scheint, als wolle man Gras über die Angelegenheit wachsen lassen.

Das Leiden der Opfer aber wird auf Jahre hin kein Ende nehmen. In den 36 Stadtbezirken, durch die am 3. Dezember 1984 Gaswolken hindurchzogen, leiden auch heute noch 60 Prozent der Einwohner an Krankheiten, die Ärzte auf die Vergiftung zurückführen: Atembeschwerden, psychotische Traumata, Menstruationsstörungen und Fehlgeburten bei Frauen, Potenzprobleme bei Männern. Mehr als 90 Prozent der Betroffenen können wegen körperlicher Schwäche nicht wie gewohnt ihrer Arbeit nachgehen. Und immer noch sterben einzelne an den Spätfolgen der Industriekatastrophe.

Das Leid der Opfer wird noch verschlimmert durch die Unfähigkeit der Behörden, schnelle Hilfe zu leisten. Bis heute haben Tausende von Geschädigten noch keinerlei staatliche Unterstützung erhalten. Um den Streitigkeiten über medizinische Gutachten in Zukunft auf dem Wege zu gehen, hat die Regierung im Mai beschlossen, allen Bewohnern der betroffenen 36 Stadtbezirke eine Soforthilfe von monatlich 200 Rupien, umgerechnet etwa 20 D-Mark auszuzahlen. Doch die Ämter und Banken in Bhopal sind damit hoffnungslos überfordert. Bisher konnte gerade einmal die Hälfte der 500.000 Berechtigten das Geld einstecken. Einige werden wohl bis zum Februar des nächsten Jahres warten müssen. Ihre Hoffnungen konzentrieren sich jetzt auf das Wiederaufnahmeverfahren vor dem höchsten Gericht, das vielleicht zu einer Revision des umstrittenen Vergleiches zwischen der indischen Regierung und dem amerikanischen Chemiekonzern führen wird.

Wenige Wochen nach der Unglücksnacht übernahm die indische Regierung mit einer Verordnung , „Bhopal Act“ genannt, das Alleinvertretungsrecht für die Opfer. Die jahrelangen Prozesse um Entschädigung und Verantwortung für die Katastrophe, ausgetragen zunächst vor amerikanischen, seit 1986 dann vor indischen Gerichten, endeten in einem Vergleich: Gegen eine knappe halbe Milliarde Dollar aus der Konzernkasse verzichtete die indische Regierung sowohl auf alle weiteren Schadensersatzansprüche, als auch auf eine strafrechtliche Verfolgung der „Carbide“-Mitarbeiter. Die Regierung übernahm damit die alleinige Verantwortung für die Entschädigung der Opfer.

Bürgergruppen blieben ohne Mitspracherecht

Juristen und Oppositionspolitiker kritisierten den Vergleich als Ausverkauf der nationalen Ehre. Die Bürgerkomitees, die vor Ort die Interessen der Giftgasopfer wahrnehmen, reichten beim höchsten Gericht einen Antrag auf Wiederaufnahme des Entschädigungsverfahrens ein. Seit dem vergangenen April beschäftigen sich nun die höchsten Richter des Landes mit der Frage, auf welche Weise der Fall Bhopal wieder aufgerollt werden kann. Zunächst haben sie den „Bhopal Act“ suspendiert und so den Bürgergruppen das Mitspracherecht eingeräumt. Die indischen Chemiekonzerne einschließlich ihrer ausländischen Partner üben massiven Druck aus, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu verhindern. Aber auch die neue Regierung unter Chandra Shekhar hat sich bereits zur Klage gegen den Bhopal- Vergleich bekannt.

Interview

Gespräch in Bombay mit der Rechtsanwältin Indira Jaisingh, die einige der Bürgerkomitees aus Bhopal vor dem höchsten Gericht vertritt.

taz: Welche Argumente führen Sie an, um den Vergleich zwischen dem Chemieunternehmen „Union Carbide“ und der indischen Regierung juristisch anzugreifen?

Indira Jaisingh: Zunächst einmal klagen wir gegen den „Bhopal-Act“, weil die Regierung es versäumt hat, die Meinung der Betroffenen zu hören, bevor sie in den Vergleich eingewilligt hat. Dieses Faktum allein kann schon ein Grund für die Neuverhandlung des Vergleiches sein.

Und warum ist Ihrer Meinung nach der Vergleich selbst rechtswidrig?

Die Entschädigungssumme von 472 Millionen Dollar reicht bei weitem nicht aus, um die Rechtsansprüche der Opfer zu decken. Das liegt unter anderem daran, daß schon die Zahl der Betroffenen viel zu niedrig angesetzt wurde. Man hat beispielsweise mit 30.000 bis 40.000 Schwerverletzten gerechnet. Neuere medizinische Gutachten aber setzen die Ziffer bei 400.000 an.

Der zweite wichtige Grund für unsere Klage ist das juristisch äußerst zweifelhafte Einstellen aller strafrechtlichen Verfahren gegen den Chemiekonzern „Union Carbide“. Aufgrund gerade dieser Klausel fechten auch die Anwälte der Regierung den Vergleich an.

Arbeiten Sie und die Bürgerkomitees nun mit der indischen Regierung zusammen?

Nein, wir erhalten keine finanzielle oder sonstige Hilfe von der Regierung. Diese hat ihre eigenen Anwälte bestellt, die ihre Sache vertreten. Wir werden unsere Klage in jedem Fall weiterverfechten, unabhängig davon, ob die Regierung ja oder nein dazu sagt.

Wie verhält sich „Union Carbide“ angesichts des Revisionsverfahrens, das auf den Chemieriesen zurollt?

Der Chemiekonzern besteht darauf, daß einmal getroffene Übereinkommen nicht neu verhandelt werden können. Die Höhe der Entschädigungssumme spiele dabei gar keine Rolle. Die Firma habe ein Abkommen mit der Regierung von Indien getroffen, und diese werde ja schließlich wissen, was sie tut. Danach sei allein die indische Regierung für Entschädigungsleistungen verantwortlich.

Wenn der Fall Bhopal tatsächlich neu aufgerollt wird, dann kann sich auch „Union Carbide“-USA einer Strafverfolgung kaum entziehen. Der indischen Regierung liegen ausführliche Beweisakten vor. Der Vorsitzende des Mutterkonzerns ist auf Kaution frei. Gegen mehrere Topmanager der indischen Tochterfirma liegen Anklagen vor. Bisher ist die Firma allzu billig davongekommen. Es wird Zeit, daß unsere Gerichte sich zu ihrer Verantwortung den Opfern und der Öffentlichkeit gegenüber bekennen!

Rainer Hörig