Endpunkt an der unsichtbaren Mauer

Immigranten, Flüchtlinge, ausländische Studenten und „Handelsreisende“ haben ein ganzes Spurenknäuel gewickelt  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Ein Blick ins Telefonbuch. Nehmen wir spaßeshalber den Buchstaben B wie Berlin. Auf der Suche nach gestandenen Baumanns, Baiers oder Brehmers lauter Bayrams, Bakals, Benadottis, Burhans, Boruchowitschs und Borsutzkys. Berlin, die wohl unausweichliche Hauptstadt des doppelten Deutschlands? Welch feinsinniger Treppenwitz der Geschichte! Unter allen in Frage kommenden Städten hätte man sich keine undeutschere als Metropole aussuchen können. Die Spuren, die südeuropäische Immigrantenfamilien, Flüchtlinge aller Nationalitäten, ausländische Studenten oder osteuropäische „Handelsreisende“ hier geprägt haben, sind so tief und dicht, daß sie bis hinein in die Einfamilienhaussiedlungen am Stadtrand reichen. Und mittlerweile sie sind so ausgelatscht und selbstverständlich, daß Einheimische sie oft gar nicht mehr sehen.

Das änderte sich völlig unverhofft am 9. November 1989. Die seit diesem Tag zunehmend unsichtbar gewordene Grenze zwischen Ost und West ist bis heute der Endpunkt für die Spuren der AusländerInnen, die in der Stadt leben. Dort verlieren sich bis heute sämtliche Zeugnisse eines Nebeneinander- und Zusammenlebens verschiedener Nationalitäten, das West-Berlin über Jahre den ihm eigenen Touch von Buntheit, dosierter Toleranz und nicht auf vornehm zu bügelnder Schmuddeligkeit gegeben hat.

In Westteil der Stadt häufig erlebte Normalität, im Osten unvorstellbar: ein S-Bahn-Waggon, in dem alteingesessene Berliner die Sprache der anderen Fahrgäste einfach nicht verstehen, weil sie hier hilf- und sprachlos in der Minderheit sind. In Ost-Berlin vergebens: die Suche nach einer italienischen Pizzeria, in der man auf die Schnelle einen Capuccino trinken könnte, längst aufgegeben die Fahndung nach einem frischen türkischen Weißbrot oder einem arabischen Schriftzug an einem Geschäft.

Die Osthälfte der Stadt ist ein Territorium, auf dem dort die lebenden AusländerInnen keine Spuren hinterlassen konnten. Die wenigen, die hier bisher gewohnt haben, wurden nach einem Rotationsprinzip wieder in ihre Heimat geschickt, bevor sie auch nur einen einzigen Kratzer in die resopalfurnierte DDR-Gesellschaft geritzt hatten. Sie waren so wenig im Straßenbild existent, daß sie paradoxerweise erst jetzt, wo die Kündigungswelle in den Betrieben und die Ausländerfeindlichkeit sie beinahe restlos vertrieben haben, sichtbar werden. Vor beinahe jedem Ostberliner S-Bahnhof stehen sie, zusammengekauert gegen den Wind, die kleinen Grüppchen vietnamesischer „Gastarbeiter“. Meist haben sie nichts anderes als ein paar Stangen zollfrei ergatterter Malboro anzubieten und wertlosen Glitzerschmuck zu verkaufen gegen ein paar D-Mark, die bei der Rückkehr nach Vietnam als Starthilfe dienen müssen.

Das Fehlen der fremdländischen Spuren im Ostteil der Stadt verleiht gleichzeitig den längst von Patina überzogenen Spuren im Westteil andere Konturen. Da ärgert man sich nach der Maueröffnung über all diese Ausländer in der Stadt, die blöde im Weg stehen, nicht wissen, wie die Fahrkartenautomaten funktionieren und jedes Fitzelchen Mauer abfotografieren. Und selbstverständlich gilt diese Aufregung über „die Ausländer“ nicht den Türken, Libanesen, Jugoslawen oder Tamilen in der Stadt, sondern den scharenweise angereisten Franzosen, Amerikanern und Schwaben. Bis heute auch hört man leicht gereizt auf diese ausländischen, unverständlichen Klänge im Kaufhaus oder in der U-Bahn, diesen ungewohnten Slang aus Gera, Dresden oder Weimar.

Der unerwartete Zusammenprall mit dem Ostteil der Stadt hat bei den Westberlinern aber auch ein trotziges Beharrungsvermögen und einen heimlichen Stolz auf liebgewordene oder angelernte Gewohnheiten gestärkt. Daß Frauen in langen, schwarzen Gewändern und Kopftüchern keine gaffende Aufmerksamkeit mehr auf sich ziehen, ist so selbstverständlich wie der allwöchentliche Gemüseeinkauf beim „Türken“. Daß Schulklassen in einigen Stadtteilen West-Berlins zu mehr als 60 Prozent aus ausländischen Kindern bestehen, ist zwar für viele Eltern ein Problem, aber ansonsten einfach eine Tatsache, die kaum noch Aufregung provoziert. Und wenn laut hupende Autos durch die Straßen fahren, schreckt man nicht mehr auf, sondern weiß: Bei Türkens wird geheiratet.

Eigene Nischen

So vielfältig und eingelaufen diese Spuren der ausländischen BewohnerInnen West-Berlins auch sein mögen, sie kreuzen sich dennoch nur selten mit denen der deutschen. Nach wie vor verlaufen sie eher nebeneinander und führen zu eigenen Nischen: zu den türkischen Teestuben, die für deutsche Männer genauso tabu sind wie für Frauen, zu den eigenen Reisebüros und Kfz-Gutachtern, in die speziellen Hochzeitssäle und die mit einem unsichtbaren Zaun umgegebenen Grünflächen, auf denen im Sommer gegrillt wird.

In der zur dritten Generation erkorenen Gruppe der ausländischen Jugendlichen vermischen sich zwar manchmal die Spuren — ihre mit dicken Filzschreibern unermüdlich an Hauswände, Bushaltestellen oder Parkbänke gekritzelten „tags“ unterscheiden sich in ihrer Unverständlichkeit wenig voneinander — und natürlich gibt es inzwischen Freundschaften und auch Ehen, die dann die Elfriedes oder Karins mit den exotischen Nachnamen hervorbringen. Dennoch erschrickt man immer wieder, wie wenig vor allem die ausländischen Frauen sich in dieser Stadt zu Hause fühlen müssen, daß sie bisher nur so wenig von der Sprache lernen wollten.

Wie lange auch hat es gedauert, bis in der Magazinsendung des Regionalfernsehens einmal ein Journalist mit ausländischem Namen auftauchte. Und wie sehr fällt es auch heute noch auf, wenn das beinahe schon legendäre „Zurückbleiben!“ des U-Bahnschaffners mit einem türkisch rollenden R aus dem Bahnsteiglautsprecher hallt.

Mit den Veränderungen in Osteuropa sind aber auch längst eingeebnete Spuren ausländischer Migration wieder neu nach Berlin gekommen: BesucherInnen, HändlerInnen, SupermarktkundInnen aus Polen, Rumänien und teilweise auch aus der Sowjetunion. Bei C&A sind sie an den prüfenden Blicken auf die Preisschilder und an den großen Bergen von Hosen jeglicher Größen zu erkennen, die sie zur Kasse tragen. Auf öffentlichen Plätzen locken sie mit durchsichtigen Glücksspielen. Und diejenigen, die vor Jahren noch über die „Kanacken“ und „Knoblauchfresser“ geschimpft hatten, regen sich jetzt über die „Invasion aus dem Osten“ auf, all die „-skis“, und „-owitschs“ oder „-schewskis“, die heute als Urberliner im Telefonbuch stehen und nichts mehr davon wissen (wollen), daß ihre Spuren aus derselben Richtung kamen.