Ursuppe hinterm Gare du Nord

Maiskolben auf Ölfässern, afroantillesisches Fastfood und Kinderpisse/ Das Fremde wächst scheibchenweise in den Alltag  ■ Aus Paris Alexander Smoltczyk

Die Myrrhenstraße stinkt, wir wollen es nicht verschweigen. Vom Kebab, oben an der Dealerkreuzung, wehen die Fettschlieren bis zur Hausnummer 3 hinunter, wohin der Pariser Mietpreisspiegel den Schreiber dieser Zeilen verschlagen hat. Es pestet nach allen Gerüchen dieser Erdenküche: koscher bei „Simon“, halal vom Schlachter gegenüber, wo im Hendlgrill die Schafsköpfe schmoren; es riecht kongolesisch zwei Häuser weiter bei Nganda, und antillesisch beim ersten afroantillesischen Fastfood der Stadt „Mac Doudou“, gehalten von zwei fetten Matronen aus Martinique. Es riecht nach bulgarischem Schipkasalat in der Nummer 57, nach Trockenfisch von der Elfenbeinküste bei „Afropêche“; es riecht den ganzen Tag, es riecht schon frühmorgens nach fröhlicher Fauna, beim ersten Schritt auf die Straße, wenn eine Taube in Erbrochenem pickt und Köter kleine Türmchen bauen. Dann kommt gegen neun Uhr der Spritzenwagen der Pariser Stadtreinigung, spült den ganzen Auswurf der Myrrhenstraße in den Rinnstein, ein Schleusenwärter aus Mali öffnet straßenaufwärts einen Hydranten, und der ganze Auswurf der Myrrhenstraße fließt hinab, multi kulti durch den Gulli.

Die „Rue Myrha“ liegt im Stadtviertel „Goutte d'Or“. Das heißt Goldtropfen. Angeblich weil hier, am schmutzigen Fuße des Montmartrehügels vor Urzeiten ein Wein gleichen Namens gezogen wurde. 25.000 Menschen aus 34 Ländern. Die ganze Welt in einem Tropfen — der alte Leibniz wäre entzückt gewesen. Inoffiziell sind es noch viel mehr. Denn wer im Maghreb vom besseren Leben träumt, der träumt von Paris. Egal, ob er die nötigen Papiere hat oder nicht. Und wo kommt er an, mit vollen Koffern und leeren Taschen? Im Goldtropfen, gleich hinterm Gare du Nord, und das schon seit Generationen.

Erst kamen die Immigranten aus der Auvergne, dem kargen Zentralmassiv. Die siedelten sich im letzten Jahrhundert hier an. Wurden Wasserträger oder Kneipiers. Noch heute ist jedes zweite Bistrot der Stadt im Besitz von Auvergnaten, und hinterm Thresen liegt ihr Heimatblättchen 'La Montagne‘. Dann kamen die Italiener, blieben eine halbe Generation lang und verzogen sich dann in die besseren Viertel, jenseits des Boulevard La Chapelle. Dann, in den fünfziger Jahren, die Algerier. Damals, so weiß Freund Farid zu erzählen, als in den Hinterzimmern der Couscous-Restaus noch die Billigbordelle florierten, hätten die „poor immigrants“ bis auf die Goldtropfenstraße Schlange gestanden. Die algerische Befreiungsfront FLN schwamm im Goldtropfen wie Maos berühmter Fisch, rekrutierte und organisierte hier den Widerstand. La Goutte d'Or wurde zum kabylischen Dorf, zum „bled“ — ein Wort, das sich längst in den Pariser Wortschatz und den Wörterbüchern der Académie Fran¿aise eingenistet hat. Hier war es auch, wo die Pariser Intellektuellen, von Sarte bis Foucault und Genet, 1972 die neuen Verdammten dieser Erde entdeckten, wenige Metrostationen entfernt von Saint-Germain des Prés.

Geld stinkt nicht, Armut schon. Nach Kinderpisse und dem Schweiß der illegalen Nähwerkstätten, die hinter zugezogenen Vorhängen in jedem dritten Haus der Myrrhenstraße werkeln. Tag und Nacht, sieben Tage die Woche. Die Chinesen und Bulgaren nähen en gros für die Boutiquen im 3. Bezirk, die Afrikaner für den eigenen Bedarf. 300 Budiken drängeln sich in den paar Gassen des Viertels. Jede Nation schlägt sich durch, wie sie kann. Man bleibt unter sich, prügelt sich unter sich und hofft auf den Absprung in die besseren Viertel jenseits der Boulevards. Ethnische Banden wie in der Banlieue gibt es im Goldtropfen noch nicht. Und auch die Dealer, die von der Sanierung des Gare de Lyon-Viertels in die Myrrhenstraße vertrieben wurden, lassen einen in Ruhe. Sofern man Mann ist. In dieser einen Straße koexistieren eine Moschee, die Imam Zebentout in einer ehemaligen Autowerkstatt unterbringen konnte, mit einer Antillenkirche, einer Frömmlergemeinde aus den USA und einem Buddhatempel, wo ein Japaner einsam aufs Nirwana wartet. Man lebt nebeneinander her, jedes Haus ein Ghetto für sich, und das ganze Viertel eben deswegen keins. Jeder schlägt sich durch. An der Ecke zur Fischweiberstraße, wo jeden Tag Markt ist, stehen Frauen aus dem Senegal und rösten Maiskolben auf alten Ölfässern. Ihre Gören spielen in den Maisblatthaufen, die Neugeborenen schlafen im Spagat, auf den mütterlichen Hintern geschnallt. Wenn es kälter ist, tragen die Hintern rosa Mützen. Wem jetzt ganz romantisch wird, kann sich von Frau Doktor Szwebel-Chikli erzählen lassen, wie sie Rattenbisse bei Kindern behandelt.

16,6 Prozent der Pariser sind Ausländer. Wohl mehr als die Hälfte der Pariser Familien war es einmal. Und alle Pariser haben mit Ausländern zu tun. Selbst im mondänen 16. Bezirk hausen oben unterm Dach die portugiesischen Dienstmädchen und räumen den Herrschaften hinterher — illegal für 500 Francs, Kost und Logis frei. Afrikanische Stämme haben große Teile des Straßenfegerbusineß ober- und untertage unter sich aufgeteilt, emsige Boatpeople verwandeln Straße um Straße in Chinarestaurants. Das Fremde wächst scheibchenweise in den Alltag hinein. Man weiß Merguezwürste zu goutieren, selbst auf den Festen der Front National, wird aber zum Rassisten, wenn im unterausgestatteten Postamt um die Ecke die halbe Warteschlange maghrebinischer Herkunft ist.

Das letzte Stadium ausländischer Spuren ist die Aufnahme in das Schönheitsideal, in die kollektiven Phantasmen, wie sie uns von den Film- und Werbeplakaten entgegenspiegeln. In den Pariser Diskos, Klubs und Modeschauen ist Ethnizität zum unverzichtbaren Outfit geworden, man trägt seine dunkle Haut wie ein edles Make-up zu Markte. Die Bleichgesichter üben Rap, Hip Hop und Rai oder lassen sich in der Metro afrikanische Zöpfchen flechten. So ist der Goldtropfen schlußendlich in den Aggregatzustand des Sublimen eingetreten. Auch wenn es in der Myrrhenstraße, der sozialen Ursuppe hinterm Gare du Nord, weiter kräftig stinkt, nach Afrofisch, Ziegenkopf und Kinderpisse.