Die Mythen, die wir selber schreiben

■ Die Betroffenen und »Herbst in Peking« feierten im Babylon-Ost den Dokumentarfilm »Berlin-Prenzlauer Berg«

In der Nacht, als die D-Mark kam, stürzte Matthias BAADER Holst sich oder es ihn vor die Straßenbahn, einer der wichtigsten Dichter des Ostens starb, bevor das Geld ihn entdeckte. Und es gibt Leute, die glauben noch heute, er hätte keinen besseren Abgang finden können. BAADER sehen wir nicht in Petra Tschörtners 35-mm-Film Berlin- Prenzlauer Berg, doch endet auch er an diesem 1. Juli 1990, an dem, so die eingeblendete Hebamme der Revolution, Horst Hanno, in der Tagesschau, die am Alexanderplatz herrschende Anarchie von der Deutschen Bank abgelöst wird.

Frau Ziervogel, die Inhaberin der Imbißbude »Konnopke« am U-Bahnhof Dimitroffstraße, läßt die Rolläden hochziehen und ein verschlafener Reichsbahner schaut verwirrt in die Kamera, dann kommt ein junger Schnösel, haut sein Geld auf den Tresen und zieht mit zwei Würsten und seiner Freundin weiter. Der Unternehmerin fällt ein Stein vom Herzen. Sie segnet das erste erarbeitete Westgeld und weiß nun, daß auch im neuen Deutschland Fleisch gegessen wird. Der Reichsbahner hat sich inzwischen wieder gefangen und kauft wie jeden Morgen vor der Arbeit eine Bockwurst. Über seinem Kopf rollt die Bahn, die eigentlich im Untergrund fahren sollte, eine neue Zeit beginnt im Prenzlauer Berg. Das Leben geht weiter — der Film nicht.

Acht Wochen ist Petra Tschörtner durch den Ostberliner Bezirk gezogen und hat die Kamera auf alles und jeden gehalten, das oder der für den Mythos Prenzlauer Berg gradestehen kann: Beginnen darf Aljoscha, Punk der ersten Stunde und Boß von Radio P. »Herbst in Peking« löst den »Feeling B«-Frontmann ab und singt auf dem entrüsteten Mauerstreifen, so schön, als wär's für MTV We need a revolution. Die kommt nicht, dafür der schwarze Block und Frieda und Gerda, Omas aus dem Kiez, die im Hackepeter Wein trinken und sich ihren »Humor nicht nehmen lassen wollen«, auch wenn jetzt schon »die Papageien aus dem Tierpark geklaut werden — ist doch traurig wa?« Traurig sind auch die Frauen bei »Treffmodelle«, die sich konzeptionslos der Marktwirtschaft entgegennähen müssen. Die Mäntel, die sie schneidern, würden sie selbst »nie tragen«, und gekauft werden sie auch zu Schleuderpreisen nicht. Die Arbeit wird knapp, und Vietnamesinnen, die schweigend am Band sitzen, sind die ersten, die gehen müssen. »Ja früher haben wir sie gebraucht, aber jetzt?«

Die Seniorchefin des Konfektionskaufhauses Gewa in der Schönhauser Allee flucht sich, an der Tür stehend, ihren Kummer von der Seele: »Die müssen doch wat am Wirsing haben, 450 DM für 'nen Rentner.« Ihre Tochter, die jetzt die Geschäfte führt, will alleine weitermachen, auch wenn sie nicht weiß wie und die Interessenten aus dem Westen sich die Klinke in die Hand geben. Überhaupt der Westen, jetzt, wo er vor der Tür steht, will ihn keiner mehr haben, auch im Knaack- Klub nicht.

Im Funkstreifenwagen, früher Toni genannt, erzählen sich die Volkspolizisten ihre schönsten Diensterlebnisse: »Also neulich hat sich eine vor dem Café Nord ausgezogen und ihre Glocken in das Fenster von 'ner Taxe gehalten. Aber eingeschritten sind wa nicht, det machen wir nur, wenn jemand Anstößigkeit erregt.« Harald Hauswald erfüllt seine Chronistenpflicht im Prater und fotografiert tanzende Tunten aus dem anderen Teil der Stadt. Der PB-Heimatfotograf läßt die Fragen der Schönen über sich ergehen: »Bist du überhaupt schon auf Stasi geprüft?« Er bestimmt, aber was wissen die schon vom Osten. In seiner Wohnung spricht Hauswald von den kommenden Zeiten und fürchtet den Verlust von Intimität.

»War ja nicht alles schlecht hier«, so ein Hausbesetzer aus der Kastanienallee, dessen Freund im schaurigsten Besetzerlatein über Projekte, Antifa und Anarchie doziert. Davon ist im Wiener Café nichts zu hören. Einer von denen, die hier immer sitzen, feiert Geburtstag. Mühle ist dabei, der war in den Großzeiten des sozialistischen Aufbaus Architekt, bis seine unsozialistische Moral ihn aus der Bahn warf. Auch Manne Krugs Verlobte feiert mit. Kein Mensch weiß, ob es stimmt und sie wirklich vor wer weiß wieviel Jahren mit dem jungen DEFA-Star was gehabt hatte. Das ist auch egal, denn singen kann sie, und sie tut es. Draußen rennen Wagenbrett und Fickelscherer durch die Nacht und bekunsten die Häuserwände. »Isohaft ist Mord« steht über den Köpfen von Obelix, Asterix und Eppelmann. Die letzten Gäste verlassen das Café, und einer singt zum Abschied das Lied von der Heimat.

Und mehr wollte auch Petra Tschörtner nicht zeigen. Ein Lied von der Heimat, ein sentimentaler Abgesang, der alle Klischees bedient und so gnadenlos DDR-deutsch ist, daß es einem die Tränen in die Augen treibt. Das Licht geht an, und der Saal tobt, Applaus und Blumen für »unsere Petra Tschörtner« und die Leute an ihrer Seite. Dann spielte »Herbst in Peking« auf. Schon lange war das Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz nicht so voll, alle sind gekommen. Viele, um sich selber zu sehen, andere, um Wunden zu lecken. Schließlich die neuen Mitbewohner aus dem Westteil, die auf einen Schnellkurs hofften. Doch es wird lange dauern, bis auch sie nicht mehr »auf«, sondern im Prenzlauer Berg sagen. André Meier

Berlin-Prenzlauer Berg — Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990. Regie: Petra Tschörtner; Buch: Petra Tschörtner und Jochen Wisotzki; Kamera: Michael Lösche; Dramaturgie: Gerd Kroske. 80 min, sw.