Bestseller: das „BGB“

■ Zur Situation des Buchhandels in den FNL

In der Nähe des Dresdner Kulturpalastes liegt das „Haus der Bücher“, die größte Buchhandlung Dresdens. Über zwei Etagen breitet sich das Angebot aus, das Erdgeschoß gehört der schöngeistigen Literatur, die erste Etage dem Sachbuch. Ratgeber steht an Ratgeber, Reiseführer an Reiseführer — Lösungsangebote für Probleme, die sich noch bis vor kurzem gar nicht stellen konnten. Das „Haus der Bücher“ ist gut besucht, auf beiden Etagen drängeln sich die Menschen vor den Regalwänden.

Das „Haus der Bücher“ gehörte bis zur politischen Wende in der damals noch existierenden DDR fest zum straff organisierten Medienverbund der SED. Den 43 VEB-Verlagen der DDR und 22 Verlagshäusern, die staatlichen Organisationen wie dem FDGB oder der FDJ gehörten, standen 22 offiziell private Verlage gegenüber. Ihre über die Zuteilung von Druck- oder Papierkapazitäten gelenkte Buchproduktion fand über die Zentralauslieferung des Leipziger Kommissions- und Großbuchhandels (LKG) und ein mehr oder minder undurchsichtiges Quotierungssystem den Weg in die 750 Volksbuchhandlungen und rund 400 privaten Buchläden in den 15 Bezirken. Noch 1989 produzierten die Verlage der DDR 6.500 neue Titel in einer Gesamtauflage von 150 Millionen Exemplaren. Weil vieles davon aber gar nicht erst in den Handel kam, sondern nach Anzeige im „Vorankündigungsdienst für den Buchhandel“ oftmals schon vor Erscheinen als vergriffen gemeldet wurde, waren nur rund 20.000 Titel ständig lieferbar.

Was am westdeutschen Büchermarkt lieferbar ist, kann heute auch in jeder Buchhandlung der neuen Länder entweder direkt gekauft oder mit kürzester Lieferfrist bestellt werden. Sämtliche Volksbuchhandlungen in Dresden hat die Regensburger Thurn-und-Taxis-Gruppe übernommen, die sich bisher vor allem im Bierbrauen profiliert hatte; einen Mehrheitsanteil von 51 Prozent an den Ostberliner Buchläden hält der Bonner Großbuchhändler Grundmann. Die Börsenvereine der ehemals zwei deutschen Staaten kündigten ihre Fusion als einer der ersten großen Verbände an, um Preisbindungsrecht und Abrechnungsmodalitäten zu vereinheitlichen.

Schon unmittelbar nach Öffnung der Grenze organisierten auch die bundesdeutschen Verlage über ihre Auslieferungen ein Vertriebsnetz für den Osten. Der Bertelsmann-Konzern, inzwischen allgegenwärtig, setzte im Dezember 1989 innerhalb von 14 Tagen 40.000 Bücher um und erwirtschaftete einen Gewinn von 832.000 DM, in nicht geringem Anteil mit Liebesschnulzen und Heimatromanen, Softpornos und Ärztegeschichten. Seit Einführung der D-Mark überschwemmt eine Flut von Prospekten und Büchern die Buchhandlungen. Täglich bis zu zehn Vertreterbesuche überfordern bis heute vor allem die Fähigkeit, Namen, Programme und Angebote tatsächlich auseinanderzuhalten. Den Großteil der Bücherkunden in Dresden scheint das allerdings kaum zu stören. Er weiß selbst, was er kaufen will.

In den Buchhandlungen der ehemaligen DDR regieren ungekrönt Utta Danella und Stephen King, verweisen Konsalik und die Schwarzwaldklinik ihre Mitbewerberinnen und Mitbewerber um die Lesergunst deutlich auf die Plätze.

Eine offzielle Bestsellerliste für das Gebiet der ehemaligen DDR gibt es noch nicht. Statistische Infrastruktur und branchenspezifische Selbstdarstellung stecken auch im Buchhandelswesen noch in den Kinderschuhen. Umfragen bei Buchhändlerinnen und Buchhändlern in Dresden, Leipzig, Torgau, Potsdam und Schwerin lassen allerdings den Schluß zu, daß die in ihrer Zusammensetzung kuriose Liste der bestverkauften Bücher des vergangenen halben Jahres offensichtlich in den größeren Städten der neuen Länder nahezu identisch ist.

Die Belletristik beherrscht das Geschäft; anspruchsvolle Literatur wird verhältnismäßig wenig nachgefragt. Vor allem Bücher zu Fernsehsendungen finden reißenden Absatz, so rangieren die Dornenvögel in der Käufergunst ganz vorn. Karl May und Edgar Wallace, bisher in der DDR kaum zu erhalten und jetzt von ihren Westverlagen in billigen Sonderausgaben als Stapeltitel auf den Markt geworfen, folgen dichtauf. Fast alle verkauften Titel sind Taschenbücher, Hardcover kosten mit preisgebundenen 30 oder 40 Mark einfach zu viel. „Die magische Preisgrenze“, weiß der Leiter des „Hauses der Bücher“ in Dresden zu berichten, „liegt bei 14,80 Mark — mehr können die Leute hier für Bücher nicht ausgeben. Ausnahme ist da nur der neue Simmel, den kaufen sie auch für mehr.“ Autorinnen und Autoren aus der ehemaligen DDR haben in der Lesergunst im Augenblick nur dann eine Chance, wenn sie rechtzeitig in den Westen gegangen sind. Biermann und Krawczyk, Havemann, Kirsch und Klier werden vereinzelt nachgefragt. An Christa Wolf und Stefan Hermlin besteht im Augenblick wenig Interesse. In der Bundesrepublik längst verstaubte Klassiker wie das Bürgerliche Gesetzbuch und das Handelsgesetzbuch gehen in der ehemaligen DDR wie die 1.000 ganz legalen Steuertricks zu Hunderten und Tausenden über die Ladentheke, Langenscheidts Taschenwörterbuch Englisch- Deutsch/Deutsch-Englisch liegt nur knapp vor dem Text des Staatsvertrages zur Vereinigung. Stefan Koldehoff