Hanau: „Sind so kleine Löchlein...“

Die Explosion im Siemens-Brennelementewerk beschädigte das Dach der Fertigungshalle/ Zufällig heilgebliebene Lüftungsanlage soll den Austritt radioaktiver Stoffe verhindert haben  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) — „Winzige Löchlein“ habe die Explosion in der Brennelementefabrik der Firma Siemens in die nur einen Millimeter dünne Trapezdachhaut des Produktionsgebäudes geschlagen, erklärte der hessische Umweltminister Karlheinz Weimar (CDU) in einer zweiten Stellungnahme zum Thema. Und diese „Löchlein“ seien selbstverständlich von Fachleuten umgehend abgedeckt worden. „Na prima!“ freute sich der Wahlkämpfer Joschka Fischer (die Grünen) abends in der Frankfurter Feuerwache: „Die Dachdecker waren da, und in Weimars Hanau ist alles wieder gut.“

Was Fischer mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus kommentierte, hat in Hanau die Bürgerinitiative Umweltschutz (IUH) und den Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) elektrisiert. Daß bei dem „anlagentechnisch erheblichsten Zwischenfall bei den Hanauer Nuklearbetrieben“ (Weimar) — im Gegensatz zu den Beteuerungen der Firma Siemens — doch radioaktive Stoffe freigesetzt worden sein könnten, hatten die Umweltschützer bereits am Mittwoch befürchtet. Erneut forderten Eduard Bernhard für den BBU und Elmar Diez für die IUH deshalb die Durchführung qualifizierter Messungen der Radioaktivität in der Umgebung der Nuklearbetriebe im Hanauer Stadtteil Wolfgang. Bernhard: „Da muß jeder Baum und jeder Strauch untersucht werden — auch das in die Kanalisation abgelaufene Schmelzwasser.“

Daß trotz der „Löchlein“ bei der Explosion keine radioaktiven Substanzen durch das Dach der Brennelementefabrik geschleudert worden seien, begründete Firmensprecher Rainer Jend damit, daß die trotz des Unglücks heilgebliebene Lüftungsanlage den Unterdruck im Produktionsgebäude habe halten können: „Da konnte rein physikalisch gesehen nichts entweichen.“ Auf Nachfrage bestätigte gestern die Pressereferentin von Umweltminister Weimar, Anette Großbongardt, die Version der Firma Siemens. Obgleich in der Umgebung des explodierten Abgaswäschers nahezu alle anderen Anlagenteile zerstört wurden, wollte Großbongardt — was die heilgebliebene Lüftungsanlage anbelangt — nicht von einem „Wunder“ sprechen: „Hier hat lediglich ein technisches System entsprechend seiner Bestimmung funktioniert.“ Und im übrigen seien Mitarbeiter der Hessischen Landesanstalt für Umwelt (HLFU) seit gestern dabei, die Umgebung der Hanauer Nuklearbetriebe nach radioaktiven Niederschlägen abzusuchen. Das könne zwar noch eine Woche dauern, doch bislang seien Untersuchungen der Luft- und Niederschlagsproben aus der laufenden Umgebungsüberwachung negativ ausgefallen. Die ersten Meßergebnisse der Feuerwehren seien vorerst bestätigt worden.

Im Verlauf des vergangenen Tages wurde auch das ganze Ausmaß des Explosionsschadens im Siemens-Brennelementewerk aufgelistet: Neben dem nahezu vollständig vernichteten Abgaswäscher wurden Lagertanks mit flüssigem Urannitrat schwer beschädigt. Auch der gesamte Kühlkreislauf der Produktionsanlage wurde leckgeschlagen, so daß sich auf dem Boden der Produktionshalle rund zehn Kubikmeter Kühlwasser mit dem auslaufenden, stark radioaktiven Urannitrat (700 Kg) mischte. Bis gestern nachmittag bedeckte das strahlende Gemisch als „nasser Film“ den Boden der Halle, erklärte auf Nachfrage der Hanauer Stadtbrandmeister Gerhard Reichhardt. Die Feuerwehr hatte in der Explosionsnacht die Türen der Produktionshalle mit Sandsäcken abgedichtet, um ein Austreten der sämigen Flüssigkeit ins Freie zu verhindern. Das „radioaktive Zeug“, so Reichhardt, werde heute „mit staubsaugerähnlichen Geräten“ und von Siemens-Mitarbeitern abgesaugt, doch noch wisse kein Mensch, was danach mit der strahlenden Flüssigkeit geschehen soll. Im Gespräch mit der taz berichtete Reichhardt vom „flauen Gefühl“ seiner Feuerwehrmänner beim nächtlichen Einsatz bei der Brennelementefabrik: „Wir haben noch einmal Glück gehabt. Wenn das Dach fortgeblasen worden wäre, hätten wir doch der Katastrophe hilflos gegenübergestanden.“ Die Filmdosimeter aller am Einsatz beteiligten Feuerwehrleute wurden inzwischen zur Auswertung in ein Untersuchungslabor verschickt.

Ob auch die „zwanzig bis dreißig Mitarbeiter“ (Jend/Siemens), die sich zum Zeitpunkt der Explosion in der Produktionshalle aufgehalten haben und ins Freie entkamen, auf Kontaminierung oder Inkorporation untersucht werden, konnte Ministeriumssprecherin Großbongardt gestern nicht sagen. Fest stehe, daß der durch Splitter schwer verletzte Mitarbeiter nach einer Operation „außer Lebensgefahr“ sei. Darauf, daß Hautverletzungen die Inkorporation radioaktiver Substanzen erleichtern, machte ein Sprecher des Darmstädter Ökoinstitutes aufmerksam. Ergebnisse der angeordneten Inkorporationsmessungen würden allerdings, so Großbongardt, erst in ein paar Tagen vorliegen. Elmar Diez forderte gestern die „umgehende Schließung“ der Plutoniumfabrik der Siemens AG (Ex-Alkem). Dort seien baugleiche Anlagenteile wie in der Brennelementefabrik installiert worden. Auf Antrag der Grünen wird sich am Montag der hessische Landtag mit dem Explosionsunglück und seinen Folgen befassen.