Schleichender Vollzug

■ Schriftsteller gehen wieder ein und aus in der Akademie der Künste — Gewöhnung an das Entsetzliche

Als der inzwischen verstorbene Revolutionsführer Chomeini das Todesurteil über den Autor der Satanischen Verse, Salman Rushdie, verhängte und mit einem Kopfgeld in Millionen-Dollar-Höhe verband, war die Empörung — beinahe weltweit — sehr groß. Selbst Regierungen zeigten sich vorübergehend beeindruckt und reduzierten ihren sonst eher pfleglichen Umgang mit dem mörderischen Regime des Iran auf Kühlungsstufen.

Kaum zwei Jahre sind seither vergangen. Die diplomatischen und sonstigen Kontakte zum Iran haben sich, sagt man, „normalisiert“. Und selbst die Schriftstellerkollegen, sonst so bedacht auf bewußten und stets erinnernden Umgang mit Geschichte, scheinen vergessen zu haben: Es war die Westberliner Akademie der Künste, die im März 1989 ablehnte, Ort einer Solidaritätsveranstaltung für Rushdie zu sein — „aus Furcht vor Attentaten“ —, und Günter Grass trat damals aus Protest gegen diese Haltung aus der Akademie aus.

Doch in genau dieser Westberliner Akademie gehen die Schriftsteller längst wieder ein und aus als wäre nichts geschehen. Das Entsetzliche am Entsetzen ist eben auch, daß es uns an sich gewöhnt.

Wie lebt ein Mensch unter der mehrfach wiederholten Drohung eines Todesurteils? Einer, der nicht in Sing-Sing oder St. Quentin sitzt — das kennen wir alle als Kino, als Nachricht — und qualvolle Jahre bis zur Vollstreckung verbringt ... Sondern einer, der eigentlich im „offenen Vollzug“ lebt oder doch leben darf, könnte, der aber wegtauchen mußte in ein Schattenreich, um am Leben zu bleiben, bewacht von Geheimpolizisten. Gezwungenermaßen lebt er das Leben eines „Agenten“ in einem dunklen Bezirk.

Wollte so einer „nur“ leben — es gäbe genügend Möglichkeiten kosmetischer und anderer Operationen, ihm das zu garantieren.

Rushdie macht nun den — verzweifelten? — Versuch, in dieser Welt des Wahnsinns und der ideologischen und religiösen Verblendungen ganz normal, eben wie ein Mensch zu (re-)agieren: Er taucht hie und da auf, stellt sich — noch vorsichtig und dosiert — der Welt und seinen Verfolgern, macht Gesprächsangebote, ist zur Versöhnung nicht nur bereit, sondern ganz offensichtlich auch fähig. Das auserkorene Opfer sucht Kontakt zu seinen potentiellen Mördern und deren Helfershelfern.

Rushdies Chancen, wie ein Mensch unter Menschen leben zu können, werden auch Zeichen sein und setzen für die Resozialisierungsfähigkeit der Menschen und ihrer Gesellschaften.

Empörung genügt eben nicht. Und gelegentliche Aufschreie sind eben auch nur Schreie, die verhallen. Menschenpflicht — das andere Gesicht der Menschenrechte — ist gefragt, statt letztere immer nur und hauptsächlich verbal einzuklagen. Aber solange Toleranz als Synonym für Kulturrelativismus gilt, solange die Todesstrafe nicht geächtet wird und Zivilisation ein Privileg der Ersten Welt genannt und als solches gehandhabt wird, hat jede Pervertierung jede Chance. Nur der Mensch, der wird dann endgültig keine mehr haben.

In den Satanischen Versen hieß es hellsichtig an einer Stelle: „Your blasphemy, Salman, can't be forgiven.“ Bleibt zu wünschen, der Autor möge wenigstens in diesem Punkt irren. Anna Jonas