Vierunddreißig Albumblätter

■ »Erinnerung und Fiktion« — eine Ausstellung von Thomas Lange in der Galerie am Weidendamm

1970: der Sprung in die Tiefe. Der einschneidende Wendepunkt im Leben eines Zwölfjährigen ereignet sich im Schwimmbad. Kopfüber saust er in das Wasser hinein, in dessen Kringeln schemenhaft Köpfe und Schultern auftauchen. Der gekachelte Beckenrand wirkt mit seinen durchgezogenen Linien, die die dünn skizzierten Körper von sitzenden und auf den Händen laufenden Jungen durchschneiden, zugleich wie ein vergittertes Behältnis, in dem der Zeichner seine Erinnerungen eingeweckt hat.

Erinnerung und Fiktion heißt der Zyklus von Thomas Lange, in dem der 1957 Geborene für jedes Jahr seines Lebens ein Blatt gezeichnet hat. Teilweise benutzte er Familienfotos als Ausgangsmaterial; familiengerechte Inszenierungen, Erzählungen der anderen über ihn, Wunschbilder, Phantasien und Erfahrungen verschmelzen im Prozeß der Erinnerung und überlagern sich. Die figurativen Bildelemente dienen als Anlaß, in einen Strudel der Empfindungen hinabzutauchen, in nicht wenigen Blättern mit konzentrischen Kreisen, als wirres Gespinst verlaufender Linien oder als dynamisches Bündel schwirrender Geraden. Manchmal erscheint die erinnerte Gestalt klein wie durch das umgedrehte Fernrohr gesehen in einer Art Gucklock, aus einem schwärzlichen Nebel herausgewischt. Andere Szenen, wie zum Beispiel eine unspektakuläre Bootsfahrt, wirken, als wären sie weit hinter der Blattoberfläche abgelagert. Nur die dick durchgezogenen äußeren Konturen versuchen, diesem Bild wieder Sichtbarkeit zu verleihen. Als hätte der Zeichner damit begonnen, alte Fotografien durchzupausen und dann mit irrlichternden Flecken auf dem Papier seinen Zustand der Erregung während der Konstruktion der Erinnerung, spontan zu notieren. Erinnerung dient ihm als Motor der Gefühlsmaschinerie, mit der er die subjektiven, abstrakten farbigen Gesten aus sich auf das Blatt herausschleudern kann, um auf das Bild der Vergangenheit seine gegenwärtige Befindlichkeit zu projizieren. Mehr als die illustrativen Elemente, die sich ähnlich in vielen Biographien wiederfinden, berührt diese Verflechtung der Zeitebenen und die Transparenz des bemühten emotionalen Haushalts.

Im Jahr der Geburt lagert eine verschwommene Gestalt mit geöffnetem Schoß im Blattmittelpunkt, über ihr schwebt in einer pastosen Farbblase die Silhouette eines Embryos. Konzentrische Ringe, wie die visuelle Umsetzung eines Knalls, umschließen nicht nur die gesamte Komposition, sondern auch in ihr verteilte kleine Szenen, eingestreute Medaillons. Eines der lustigsten Blätter ist für 1963 entstanden, dem Jahr des großen Teddybären: eine gelbliche, krumplige Lackschicht nimmt auf einmal das Aussehen des Teddy-Kopfes mit schwarzem Knopfauge und Schnauze an. Während sich in der Kindheit oftmals konkrete Details entschlüsseln lassen, überwiegen in den späteren Jahren die Spuren der Emotionalität, die, oft an das sexuelle Erleben geknüpft, sich über freie Flächen ergießen oder in kleine Bildecken retten können.

Dem Papier selbst hat Lange, der mit Bleistift, Ölfarben, Lacken und Wachs in grauen und bräunlichen Tönen arbeitet, den Zustand der Verwitterung und Auflösung gegeben. Übereinandergeklebt und ölgetränkt erhalten die Blätter konkret den Charakter von durchsichtigen oder verschlossenen Schichten, von dünn besetzten oder bedrängend dicht bewohnten Stellen. Sie vermitteln die Unregelmäßigkeit des Gedächtnisses, seine Arbeit der Selektion und Verdrängung und der mühsamen Aktivierung von Vergessenem. Katrin Bettina Müller

Erinnerung und Fiktion von Thomas Lange. Eine Ausstellung der Zellermayer Galerie (Berlin), der Galerie Hermeyer (München) und des Zentrums für Kunstausstellungen (Berlin-Ost) in der Galerie am Weidendamm, bis zum 30. Dezember 1990.