Ein Warenlager voller Lachsäcke

■ Das Schmidt-Theater in Hamburg, wo auch Frau Jaschke ihre Erfolge feiert: Ohnsorg für Alternative

Liebe Patienten“, sagt der Moderator mit fettem Lächeln auf seinem spitzem Mund — und kann den Satz kaum zu Ende formulieren, denn die Bekloppten johlen und kreischen, als sei's ein Bierpalast zur Karnevalszeit. Corny Littmann, so heißt der Major domus dieser Show, sagte soeben: „Es gibt Theater, bei dem die Besuchergruppen grundlos jedem Schwachsinn applaudieren.“ Tosender Beifall.

Wir befinden uns in der angesagtesten Theaterspielstätte Hamburgs, dem „Schmidt“ an der Reeperbahn, mitten im Herzen des früheren Sexviertels und heutigen Dorados der Alternativszene. Gegeben wird die Mitternachtsshow, eine weitere Ausgabe des „gnadenlosen Variétés“ aus dem ehemaligen Plüschetablissement zwischen Operettenhaus und Davidwache, zwischen Schanzenviertel und Hafenstraße. Das Haus boomt. Seit seiner Eröffnung 1988 gibt es in Hamburg keine erfolgreichere Kleinkunstspielstätte. Selbst die gestrengen Rezensenten von 'Theater heute‘ sprechen angesichts des „Schmidt“ vom „neuen deutschen Volkstheater“.

Die gebeutelte Alternativszene, intellektuell während der letzten Dekade aufgerieben zwischen K-Gruppen-Nachlaßverwaltung, Postmoderne und Experimentalität à la Hamburger Kampnagelfabrik, hat endlich einen Ort zum Lachen, Wiehern und Schmunzeln gefunden. Man trinkt und ißt, grüßt und küßt, man tut's ständig und ist ganz „entre nous“.

Scherze über Kohl („Birne“) und Gattin („Barbiepuppe“), Graf Lambsdorffs Gehbehinderung („Er konnte sogar Tango tanzen“), Michael Jackson („War er es oder sein Schimpanse?“) oder über eine Figur namens Hannelore Knauer, die in der Blockflötengruppe der St.-Trinitatis-Gemeinde mitmacht, werden mit Gelächter quittiert, als sei ein ganzes Warenlager voller Lachsäcke in Aufruhr.

Die Blockflötistin ist allerdings verhindert, ihre Vertretung heißt Marlene Jaschke. Sie ist der unbestrittene Star des Hauses, hausgemacht zumal. Die „Heidi Kabel der Alternativen“ ('Theater heute‘) brilliert einmal mehr als tuntige Sekretärin, die auf den ideologischen Pfaden des Ökomilieus ihre ganz eigene Spur zu finden sucht. Also geht sie „atmen“ oder ins Udo-Jürgens-Konzert, wobei sie versehentlich bei Prince landet.

Dies alles und noch viel mehr teilt sie dem Publikum plaudernd mit — ganz die erschütterte, naive Frau in den Vierzigern, herzensgut, plietsch (wie man in Hamburg statt lebenstüchtig sagt) und immerzu Missingsch (Hamburgs Mischung aus Platt- und Hochdeutsch) plappernd. „Die Jaschke kommt“ gilt in Hamburg nicht als Schlachtruf, sondern als heißer Tip, als Offenbarung jener Populärkultur, die noch vor einem Jahrzehnt als bürgerlich, uneigentlich oder spießig diffamiert worden wäre. Ohnsorg-Theater, Millowitsch oder Komödienstadl?

1988 eröffneten Corny Littmann und Ernie Reinhardt, beide auf kokette Art sehr homosexuell, ihren Laden. Als Intendanten wollen sie nicht verstanden werden, Littmann fühlt sich eher als Impresario, als Förderer der untergründigen Kultur, als Promoter des einst schlechten Geschmacks. Littmann hat, Mitte der siebziger Jahre Kulturpäpstin der Schwulenbewegung, Doyen der Gruppe „Brühwarm“, wie Reinhardt gleichfalls bewegungsgestählt, den naheliegenden Verdacht zurückgewiesen, ein Schwulentheater zu betreiben. Die Szene sei zu klein, hieß es, um den kommerziellen Erfolg sicherzustellen. Erfolgreich wurde Kurs genommen auf den Markt mit den Leuten, die sich den Zeitläufen verbunden fühlen, irgendwie und alternativ, Kurs also auf alle. Doch auch die Urszene pilgert nach wie vor dorthin, goutiert die schlechten Zarah-Leander-Parodien, jene allerdings, die vom deftigen Charme traditioneller Travestietheater nichts mehr spüren lassen. Überhaupt der Charme: Er fehlt an jeder Ecke. Selbst die drei knackärschigen Jungs mit ihrem Versuch, einen kleinen Strip zu wagen, signalisieren: woanders schon mal besser gesehen.

Aber Littmann und Reinhardt, Institutionen der Kulturszene Hamburgs, sind beliebt wie nie. Zwar sind Reinhardts Pointen in der Rolle der Lilo Wanders immer eine Zehntelsekunde verspätet gesetzt, kann Littmann kaum verheimlichen, daß er nicht nur nicht singen kann, sondern daß seine Moderationstechnik außerdem stark an Auktionatoren von Sklavenmärkten erinnern läßt.

Indes verdanken etliche Gruppen ihren Erfolg Auftritten im „Schmidt“. Die „Moskauer Lichter“ — eine sowjetische Clownsgruppe — sind ebenso über die alternative Örtlichkeit zu Ruhm gekommen wie Frau Jaschke alias Jutta Wübbe. Irritierend nur, daß das gleiche Publikum, das im „Schmidt“ so ausdauernd sich zu amüsieren weiß, die viel älteren Einrichtungen des Boulevards, vielleicht auch des Volkstheaters, nicht zu würdigen weiß. Das Ohnsorg-Theater beispielsweise unterscheidet sich von den Darbietungen an der Reeperbahn vor allem dadurch, daß dort Schlüpfrigkeiten der eher zotigen Sorte unterbleiben, die Belustigungen eher in der Komik niederdeutscher Sprache, des eher betulichen Lebens an der Waterkant zu suchen sind.

Den alternativen Kostgängern sind derlei Einwände schnurzegal. Sie freuen sich auf das kommende Jahr. Dann nämlich eröffnet gleich nebenan, noch näher zur Davidwache und zur Herbertstraße, im alten Tanzpalast „Zillertal“ die große Dependance des „Schmidt“ seine Pforten. Die Intendanz bleibt die gleiche, nur die Anzahl der Plätze ist erheblich größer. Das Entree steht bereits fest: Carmen soll's sein, alternativ angerüscht und am Hamburger Fischmarkt angesiedelt. Auch der ist seit der ökonomischen Auszehrung des Hafens nur noch Bestandteil alternativer Folklore. Und deshalb nimmt es nicht wunder, daß Jutta Wübbe die Hauptrolle spielen wird. Jan Feddersen