Gorbatschow beschwichtigt die alten Mächte

Die drei Mächte der alten Sowjetgesellschaft, KPdSU, Armee und KGB, melden sich zu Wort/ Der Präsident riskiert im Bündnis mit ihnen den eigenen Machtverlust/ Aber auch Unterschiede zwischen Armee und KGB sind deutlich geworden  ■ Aus Moskau K. H. Donath

Als sich Wladimir Krjutschkow, Vorsitzender des KGB, dieser Tage mit einem Appell an das abendliche Fernsehpublikum wandte, rief das bei vielen Sowjetbürgern ungute Gefühle hervor. Verhohlene und unzweideutige Warnungen der alten, angefressenen Säulen der Sowjetgesellschaft, der Armee, des Geheimdienstes und des Parteiapparates, gehören mittlerweile zum abendlichen Unterhaltungsprogramm. Den Anfang damit hatte der Verteidigungsminister und Marschall der Sowjetunion Dimitrij Jasow Ende November gemacht. Er verlas — und darauf legte er Wert — einen mit Präsident Gorbatschow abgestimmten Acht- Punkte-Ukas: Die Armee könne die ihr zugefügten Erniedrigungen nicht mehr widerspruchslos hinnehmen. Kommandeure seien daher befugt, die Kontrolle über Strom und Wasser zu übernehmen, wenn diese lebenswichtigen Güter den Armeeinheiten vorenthalten würden. So hatten kürzlich in der abtrünnigen Republik Litauen einzelne Kummunen einfach die Versorgungsleitungen unterbrochen. Bei Angriffen auf Militäreinrichtungen oder Soldaten bestünde jetzt die strikte Anweisung, von der Waffe Gebrauch zu machen. Im Klartext heißt dies: Die Spitzen der Armee haben erreicht, was sie schon länger wollten, den Freibrief nämlich, in innenpolitische Auseinandersetzungen einzugreifen, ohne gegen bestehendes Recht zu verstoßen.

Noch vor einem Jahr war es derselbe Jasow, der sich dagegen verwahrte, die Armee zu einem Instrument der Innenpolitik umfunktionieren zu lassen. Das sei schließlich Sache der Miliz. Die zunehmende Unregierbarkeit des Landes und der unaufhörliche Verfall der Union haben jetzt bei den alten Stützen des Systems, besonders bei der Armee, aber zum Umdenken geführt. Und Gorbatschow, der die Macht der Konservativen noch vor dem Sommer zu schmälern suchte, schenkt ihnen jetzt auffallend viel Gehör. Personelle Umbesetzungen im Innenministerium stärkte die Befürworter harten Durchgreifens — der neue Innenminister Boris Pugo und sein Stellvertreter, Boris Kromow, sind Symbole dafür.

KGB-Chef Krjutschkow setzte bei seiner Ansprache die Akzente anders als Jasow. Auch er beklagte den Zerfall der Union und die Zersetzung der Gesellschaft. Er operierte sogar mit längst eingemottet geglaubten Versatzstücken kommunistischer Verschwörungstheorie: Moralische und materielle Hilfe erhielten die Extremisten im Land von „speziellen ausländischen Diensten“, die ein Interesse an der Destabilisierung der sowjetischen Regierung hätten. Das Böse, das von außen kommt, ist wirklich eine alte Klamotte, das müßte er selbst wissen.

Mehr Aufschluß über die Position der Führung des KGB bot das Präludium seines Appells. Mehrfach verwies er darauf, Präsident Gorbatschow hätte die Leiter aller Sicherheitsorgane eigens dazu aufgefordert, öffentlich Stellung zu beziehen. Das klang schon fast wie eine Distanzierung von der eigenen Fernsehansprache. Krjutschkow versicherte, das KGB diene keinen Sonderinteressen und leiste ausschließlich den Entscheidungen der Regierungsorgane Folge. Natürlich weiß der Chef-Tschekist, daß er hinsichtlich der Sonderinteressen seiner Mitarbeiter nicht die Wahrheit gesagt hat. Aber man könnte sein Statement als eine Willenserklärung verstehen, daß sich die KGB-Spitze dem höchsten Souverän verpflichtet fühlt. Die alten Stützen der Sowjetgesellschaft sind sich nicht einig.

Orthodoxe ohne Programm

Der letzte KPdSU-Parteitag hatte die Schwäche der Orthodoxen offenbart. Der vor Wut schäumende orthodoxe Flügel konnte keinen eigenen Vertreter präsentieren, der Gorbatschows Stelle hätte einnehmen können. Bis dato hat sich daran nichts geändert, während der Zerfall der Gesellschaft seither weiter fortgeschritten ist. Manche Konservative tragen nach Kräften zum weiteren Verfall bei: Als Fabrikdirektoren oder Kolchosvorsitzende zum Beispiel, die ihre Lieferverpflichtungen nicht mehr einhalten, oder als Redakteure konservativer Zeitungen, die die Lebensmittelverknappung dramatisieren und damit indirekt zu weiteren Panikkäufen aufrufen. Die Selffulfilling prophecy funktioniert.

An diesem Punkt hat Gorbatschow Gegenmaßnahmen ergriffen. Er setzte „Arbeiterkontrollen“ ein, die der Spekulation im Handel auf den Grund gehen sollen. Doch wenden diese Kontrolleure ihr Augenmerk hauptsächlich auf private Kooperativen und lassen ihren Frust gegen deren hohe Preise freien Lauf. Fazit: Die zarten Pflänzchen einer entzerrten Planwirtschaft werden niedergetrampelt, während die Profiteure des Defizitsystems triumphieren.

So ist diese Maßnahme fehlgeschlagen und trägt dazu bei, das Chaos im Lande nur noch zu vergrößern. Aus Angst vor dem eigenen Machtverlust, vielleicht auch mit der Begründung, wenigstens einen Militärdiktator gelte es zu verhindern, macht Gorbatschow, so scheint es, das zunichte, was er aufbauen wollte: eine plurale Gesellschaft, die die alten Denkweisen der Gesellschaft hinter sich läßt. Stattdessen beruft er Minister, die am alten Befehlsmechanismus hängen und nicht begreifen wollen, daß Konsensfindung gefordert ist.

Aber kann diese Taktik für den Präsidenten aufgehen? Ein Schock muß Gorbatschow in die Glieder gefahren sein, als der Volksdeputierte Oberst Viktor Alksnis dem Präsidenten im Parlament ultimativ drohte: Sollte es ihm nicht innerhalb von 30 Tagen gelingen, eine grundlegende Wende im Land zu vollziehen, müsse die Frage der Präsidentschaft neu entschieden werden. Ähnlich denken die 450 Abgeordneten der konservativen „Sojus“-Fraktion im Volksdeputiertenkongreß. Doch auch diese Fraktion hat nichts anzubieten. Jeder Versuch Gorbatschows, mit Hilfe der Konservativen an der Macht zu bleiben, ist daher ein Schritt in Richtung eigenen Machtverlusts.

Die Bevölkerung ist unzufrieden; aber sie will auch nicht zurück zum alten System. Die alten Stützen der Gesellschaft haben, wie jüngste Umfrageergebnisse offenbarten, so kollossal an Rückhalt verloren, daß sie als politische Alternativen nicht mehr in Frage kommen. Und selbst das Militär ist zerstritten. Einige Generale mögen von einem Putsch träumen, nur wer führt ihn aus?

Militärputsch ist unwahrscheinlich

Bis in hohe Offiziersgrade wird Unmut gegenüber der Generalität laut. Ganz zu schweigen von der Truppe, den Wehrdienstleistenden, die sich kaum zu innenpolitischen Zwecken einsetzen ließen. Zudem widersetzen sich einige Republiken der Forderung Moskaus, Rekruten in die Rote Armee zu entsenden. Sie befassen sich schon damit, eigene Armeen aufzubauen. Die Spezialtruppen des Innenministeriums andererseits sind an vielen Brennpunkten des Landes gebunden. Eine flächendeckende Militärdiktatur ließe sich gar nicht errichten. Wenn doch, dann nur für kurze Dauer. Das Militär hat keine Lösungen für die Probleme dieses Landes. Seine Herrschaft wäre ein tragisches, aber kurzes Interregnum.

Mit seinen jüngsten Entscheidungen hat Gorbatschow einmal mehr gezeigt, daß er den Denkweisen des zentralen Apparates verhaftet bleibt. Seine eigene Denkweise ist offensichtlich in der zentralistischen Logik steckengeblieben. Statt den alten repressiven Vorstellungen mit einer Vornewegverteidigung zu begegnen, steht der „mächtigste Mann“ der Sowjetunion wie die alten Mächte selbst, ohne politische Perspektiven da.