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Das Wort Volk

Hellmut Stern, Geiger bei den Berliner Philharmonikern, hat seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben: „Saitensprünge“  ■ Von Christiane Peitz

Wenn er von der „Kristallnacht“ erzählt, passiert es ihm immer wieder, daß Leute sagen: „Ach, ich dachte, Sie seien Deutscher.“ Hellmut Stern ist Deutscher, 1928 geboren in Berlin- Friedenau. Und er ist Jude. Solche Bemerkungen erlebt er wie eine erneute Ausbürgerung. Er hat was gegen die vorsichtige Umschreibung dieses Worts Jude, gegen Formulierungen wie „Menschen jüdischen Glaubens“ oder „jüdische Mitbürger“. Für ihn sind das späte Nachwirkungen der Nazizeit. Aber ebenso suspekt ist ihm das Wort Volk. Saitensprünge ist ein Buch gegen Nationalismus und Patriotismus jedweder Couleur, gegen Rassismus, Visabestimmungen und Ausgrenzungen, gegen Arroganz, Macht und Kult. Aber keines, das Toleranz predigt wie die Politiker in ihren Sonntagsreden. Stern predigt nicht, er erzählt sein Leben: eine Reise von Berlin nach Berlin — eine Reise um die Welt. Das Wort Toleranz kommt darin nicht vor. Es wäre zu billig.

Als die Nazis an die Macht kamen, war er fünf Jahre alt. Als die Synagoge in der Prinzregentenstraße brannte, rannte er nicht nach Hause, sondern trieb sich in der Stadt herum. „Als ob mir jemand gesagt hätte: Du mußt das alles sehen.“ Die Familie wollte in die USA emigrieren, oder nach Uruguay oder Venezuela, aber der Papierkrieg dauerte zu lange; sie bekam ein Visum nach China und geriet in die Mandschurei, nach Harbin, einer Art „Paris des fernen Ostens“. Eine Stadt mit „Chinatown“, russischen und europäischen Emigranten, bitterer Armut, Hunger, Kälte. Im Krieg wurde sie von den Japanern besetzt. Der junge Stern jobbt als Musiker bei chinesischen Hochzeiten und im Eisenbahnerclub (in der Inneren Mongolei), als Klavierstimmer und Chorrepetitor, versucht auf dem Markt Fasane zu verkaufen oder Baldrian und findet seine zweite Geige bei einem Straßenhändler auf einem Haufen von Sonnenblumenkernen. Der Händler hatte sie bei einem Sowjetsoldaten, der sie in Berlin „erobert“ hatte, gegen eine Flasche Wodka eingetauscht. Er erlebt den russischen Antisemitismus und längst nicht nur diesen: „Von den Japanern wurde ich geschlagen, weil sie mich für einen Russen hielten. Von den chinesischen Kindern wurde ich als ,Langnase‘ (,Ta Pi-tse‘) beschimpft — das Schimpfwort für Europäer. Das Schimpfwort für die Russen hieß ,Lao-Mao-tse‘ (,Alte Mütze‘). Übrigens wurde ich auch noch von den jüdischen Kindern als Deutscher gehänselt. Ich lernte, Prügel zu beziehen, für Sachen, für die ich nichts konnte. Ich mußte mich anpassen. [...] Ich lebte also verschiedene Leben: zu Hause deutsch [...] und draußen russisch, chinesisch oder japanisch.“ Makaber, aber wahr: „Die Atombombe rettete unser Leben.“ Aber erst 1949 bekommt die Familie — nachdem sie wiederholt Petitionen an den General des Nordabschnitts der rotchinesischen 8. Armee geschrieben hatte — endlich eine Ausreisegenehmigung für Israel.

Dort wieder: Baracken, Quarantäne, Formalitäten. Und Kälte. Zum erstenmal seit 70 Jahren schneit es in Haifa, ausgerechnet im Januar 1950. Aber endlich keine Prügel mehr. Stern hört nicht auf, genau zu beobachten. Im Nebensatz erwähnt er, daß sein Neffe später Elektriker wird und sich im Sechstagekrieg darauf spezialisiert, erbeutete sowjetische Panzer für den sofortigen Einsatz auf israelischer Seite zu reparieren.

Stern kann endlich Musik machen. Zunächst als Caféhaus-Pianist — wie viele seiner jüdischen Kollegen hat er, zwangsläufig, jahrelang Unterhaltungsmusik gemacht. Von daher rührt sein Unverständnis gegenüber Kollegen, die auf hochqualifizierte U-Musiker nur herabblicken. Aber eigentlich will er ins Israel Philharmonic Orchestra. Eines Abends sitzt Isaac Stern nach einem Konzert in der Hotelhalle, wo Hellmut Stern Klavier spielt. „Da ich nicht wußte, ob er Russisch sprach, ich aber kein Englisch konnte, sagte ich: Ich spreche Russisch. Darauf antwortete er: Ich auch. Ich dann weiter: Entschuldigen Sie, daß ich Sie anspreche. Ich heiße Stern. Und er: Ich auch. Dann sagte ich, in Anspielung darauf, daß ich im Café als Pianist arbeitete: Ich bin Geiger. Er: Ich auch.“

So kam Hellmut Stern zu den Philharmonikern in Israel, lernte Bernstein kennen, Jascha Heifetz, Artur Rubinstein und viele andere. Das IPO war damals eines der raren Orchester mit Selbstverwaltung und weitgehend demokratischen Strukturen. Die liegen ihm, bei den Berliner Philharmonikern, bis heute am Herzen.

Aber Sterns Odyssee ist noch lange nicht beendet. Die Eltern wandern nach Amerika aus, der Vater hat einen Herzinfarkt. Stern soll eigentlich eingezogen werden, aber er erwirkt eine Sondergenehmigung für eine Amerikareise. Die Familie braucht ihn, er will nicht zurück. Mit schlechtem Gewissen schreibt er lange Briefe. Wieder gibt es einen Papierkrieg, diesmal wird es endgültig absurd. Um als Immigrant anerkannt zu werden, braucht Stern die deutsche Staatsbürgerschaft. Das dauert eineinhalb Jahre. Im Orchester — das Chicago Symphony Orchestra wollte ihn engagieren — kann er nicht spielen, denn er ist nicht in der Gewerkschaft. Um Mitglied zu sein, braucht er erstmal die Anerkennung als Immigrant. Als er endlich Mitglied ist, muß er noch ein halbes Jahr warten, bis er arbeiten darf. Er verdient sein Geld als Schuhverkäufer, Bürstenverkäufer, Hammond- Orgel-Verkäufer und — illegal — als Barpianist. Nach zwei Jahren erst, 1958, spielt er, auch als Solist, im St. Louis Symphony Orchestra.

In den USA lernt Stern den Rassismus der Weißen kennen, rigide Gewerkschaften und unmögliche Orchesterorganisationen: „Orchester“, schreibt er, „wurden dort geführt wie eine Seifenfabrik.“ Aber „wenn Musiker zu Proben oder Konzerten kommen wie Angestellte ins Büro, dann wirkt sich das auch auf die musikalische Qualität aus“, heißt es später im Zusammenhang mit den Berliner Philharmonikern. Stern geht mit seiner Familie nach Berlin zurück, 1961 wird er Erster Geiger bei den Berliner Philharmonikern und 1969 eines von zwei Vorstandsmitgliedern. Er reformiert die Tarifbestimmungen, schafft unsinnige Titel ab, wird zum Liebhaber schöner Geigen und schwärmt, in den Anfangsjahren, für Karajan.

In diesem zweiten Teil des Buchs geht es vorwiegend um den Zusammenhang zwischen Orchesterorganisation und -qualität, zwischen Struktur und Ästhetik, Politik und Kultur. Demokratie hinter der Bühne ja, Demokratie auf dem Podium nein, schreibt Stern in aller Deutlichkeit. Und im Zusammenhang mit den Karajan-Skandalen kritisiert er scharf und präzise vor allem die Berliner Politiker, die vor lauter Angst vor dem Maestro statt Kulturpolitik Kultpolitik betrieben haben. Er geht mit der laschen Programmgestaltung, dem immer gleichen Repertoire ins Gericht. Bis heute will er sich nicht abfinden mit Kollegen, die von ihrem Mitsprachrecht keinen Gebrauch machen wollen, und mit Dirigenten, Intendanten oder Politikern, die es beschneiden wollten — seit Beginn diesen Jahres sitzt Stern wieder im Vorstand.

Saitensprünge hat leider eine Schwäche. Immer wenn es um Musik geht, behauptet Stern mehr, als er erzählt. „Besonders gut dirigierte Karajan die Neunte und die Eroica“, schreibt er. Zu gern hätte ich gewußt, was genau aus der Sicht eines Orchestermusikers „besonders gut“ ist. Zum „Fall“ Sabine Meyer — der Klarinettistin, die Karajan partout ins Orchester haben wollte und das Orchester partout nicht — schreibt Stern, es habe sich um ein Problem des „identischen Klangcharakters“ gehandelt. Abgesehen davon, daß sich die Berliner Philharmoniker bis heute dadurch auszeichnen, daß bei ihnen in der Tat ungewöhnlich wenige Frauen mitspielen, abgesehen davon, daß es wohl weniger um die Frauenfrage als um einen Machtkampf zwischen Orchester und Dirigent ging — wie Stern ehrlich schreibt —, hätte ich gerne erfahren, was genau damit gemeint ist: Ihr Klang habe nicht gepaßt. Auch das Verhältnis zu seinem Instrument erläutert er vergleichsweise oberflächlich: Wir arbeiten mit Kunstwerken, heißt es zwar einmal, aber daß es sich wohl nicht unwesentlich um eine erotische Beziehung handelt, erwähnt er nicht. Was daran liegen mag, daß sich solch Intimes schwer vermitteln läßt. Und über Musik schreiben, fällt nicht nur Musikern schwer.

A propos Schreiben: Hellmut Stern hat dieses Buch nicht „geschrieben“. Er hat seine Geschichte und seine Geschichten Gudrun Fröba und Rainer Nitsche vom Transit- Verlag auf Band erzählt und mit ihnen gemeinsam ein druckreifes Manuskript erstellt. Anders, also ohne die (unbezahlte) Mühe des kleinen Verlages inklusive eines gemeinsamen Arbeitsurlaubs, wäre dieses Buch nie zustandegekommen.

Warum zurück nach Deutschland?, heißt ein Kapitel. Stern gesteht seine Sehnsucht nach Berlin. Er verteidigt die deutsche Kultur, auch die Aufführung von Wagner- und Strauss-Werken in Israel. „Ich halte nichts von einer Kollektivschuld.“ Aber Stern macht es mir nicht einfach. Er schreibt weiter: „So etwas wie Kollektivscham sollte es allerdings geben.“ Er selbst schäme sich als Deutscher im Ausland manchmal, wenn die Rede auf die Nazizeit kommt. Ein Satz, der denjenigen, die zu wissen glauben, was Opfer bitteschön zu fühlen haben, ganz bestimmt nicht ins Weltbild paßt.

Hellmut Stern: Saitensprünge , Berlin (Transit Buchverlag), 256 S., 38 DM

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