Die Lust an der Beliebigkeit

■ Michael Simon und Heiner Goebbels stellen im Frankfurter TAT ihre Raum-/Musikinstallation „Newtons Casino“ vor

Newton's“ heißt das Casino, und man fragt sich sofort, warum es nicht auch... wer war das doch noch gleich... der mit der Relativität — richtig: der olle Albert (der, wo auf dem Foto immer so sympathisch die Zunge...?)... aber nein, der ist ja sozusagen schon „theatralisch besetzt“, seit ihn Bob Wilson vor ein paar Jahren am Strand spazierengehen ließ.

Hm.

Aber Planck — den bildet auch das Programm ab, das laut Editorial „in der ZEITschrift (!) Fake“ verschwindet (!), und zwar in dem Bestreben, „einen Kontext zu schaffen, in dem es möglich ist, die Produktion nicht als Theater-,Stück‘ aufzufassen, sondern als Projekt zu unserer Wahrnehmung von Geschichte“.

Den könnte man also nehmen: „Plancks Pult“ etwa, denn an dem steht er auf dem Foto und begründet gerade die Theorie der Quanten (S.14)... oder auch Heisenberg, der schaut auf dem Foto gegenüber sinnend in die Ferne, an der Stelle des Krawattenknotens prangt seine „Weltformel“ — hieroglyphengleich, womit wir also schon bei den alten Griechen wären —, mit der er „unserem Weltbild die Sicherheit“ nahm ('Fake‘ 3, S.15) — ein Sokrates also etwa oder auch ein Kopernikus vielleicht... Oder eben Newton! Wo der doch immerhin die Schwerkraft erfunden hat!

Denn darum geht es hier: da es sich allmählich herumgesprochen hat, „daß wir eine objektive Wirklichkeit nie erkennen können“ (laut Heisenbergs Unschärferelation, vgl. 'Fake‘, S.15), präsentiert sich diese „Raum-/Musikinstallation“ nicht als „Stück“, sondern als ein „Spiel“, das „beim Zuschauer ein Interesse voraus(setzt), sich mit ,Fundstücken‘ zu beschäftigen: er soll sich aus dem angebotenen Material, den Fragmenten, seine eigene ,Geschichte‘ zusammensetzen“.

Na schön, das sind wir inzwischen, nach einigen Jahrzehnten Happening und Performance hie, Rezeptionsästhetik da, ja nachgerade auch gewohnt! Hier also, bitte sehr, meine Geschichte: Michael Simon, der nicht nur in Frankfurt und nicht nur durch seine Zusammenarbeit mit William Forsythe bekannte Bühnenbildner, baute für diese Produktion im Bühnen- und Zuschauerraum des TAT (das Publikum nimmt auf dem Balkon Platz) eine Installation aus schwarzgestrichenen geometrischen Elementen, die den Grundrissen der Ruinen von Troja nachgebildet sein mögen und die um die eigene Achse kreisen und gegeneinander gehoben oder versenkt werden können. Von allen Seiten ist die eindrucksvolle Konstruktion durch weiße Scheinwerfer zu be- oder durchleuchten, so daß sich ständig wechselnde Perspektiven, Einblicke, Schattenwirkungen ergeben. Zuweilen zieht ein grüner Laserstrahl einen Strich über die Elemente auf der sich gleichfalls drehenden Bühnenfläche, oder es legt sich gar ein Raster aus solchen Strahlen darüber, der Feldeinteilung auf einem archäologischen Ausgrabungsgelände gleich.

Heiner Goebbels, freischaffender Komponist, der sich unter anderem durch Heiner-Müller-Vertonungen und Bühnenmusiken einen Namen gemacht hat, schuf für Newtons Casino eine musikalische Collage, in der unter anderem meditative Klänge, altgriechische Gesänge, Arbeitsgeräusche und schließlich Bruchstücke aus Berlioz' Trojanern verarbeitet sind. Dies alles wird zum Teil vom Band eingespielt, zum Teil aber auch von drei DarstellerInnen, die zugleich auch als SängerInnen und MusikerInnen fungieren, engagiert und wohltönend vorgetragen: von Sven-Ake Johannsson, der Trommel und Akkordeon gleichermaßen virtuos zu bedienen versteht und mit sichtlichem Behagen Frösche nachahmt oder mittels Geigenbogen, Plastikschalen und geschlagenem Tuch die Kulissenelemente zum Klingen bringt; von Areti Georgiadou, die griechische Weisen zu Gehör und Teller und Tassen zum Zerscheppern bringt; von Ralph-Daniel Mangelsdorff, der mit klangvoller Countertenorstimme Fragmente aus Homer und Berlioz vorträgt, überwiegend auf den Gitterrosten hoch über den Köpfen der Zuschauer.

Den drei Darstellern sind - laut Oktoberheft des TAT - offenbar drei Figuren zuzuordnen: „Der Lesende — Schliemann, der Schreibende — Homer, die Geschriebene — Kassandra“. Von Schliemann, dem „Entdecker Trojas“, werden denn auch Auszüge aus den Tagebüchern zitiert.

Dabei kommt es wohl nicht so sehr auf das Verständnis dieser Textstellen an — zum Teil werden sie systematisch mit Geräuschen zugedeckt. Einmal geht es um eine Grabungsaktion innerhalb der Theateranlage, die „von großem Nutzen für die Wissenschaft“ sein soll, doch da man nicht erfährt warum, führt auch diese Spur nicht zu einem fixierbaren Sinn — es sei denn dem einer ironischen Selbstreferenz der Theatermacher. Das in 'Fake‘ versteckte „Programmheft“ liefert einen Text hinzu, in dem der Ausgrabungsunternehmer Schliemann stolz beschreibt, wie es ihm gelungen ist, die Arbeitslosigkeit der Region auszunutzen, um die Arbeitszeit zu verlängern und ein strenges Rauchverbot durchzusetzen — doch interessiert daran sichtlich nicht etwa das Thema, sondern nur der „Fundstück“-Charakter. Das Zitat bricht mitten im Satz ab, und im Spiel selbst kommt es nicht vor.

Dafür gibt es eine ganze Menge schöner Bilder und Sequenzen. Etwa das Bild von Areti Geogiadou (=Kassandra?), die in einem Lichtkegel auf dem Boden hockt und sich in eine Spirale von griechischen Sätzen einschließt, die sie mit Kreide um sich herum schreibt. Oder das von Ralph-Daniel Mangelsdorff, der im Dunkeln an einem schwarzen Bühnenelement lehnt, wobei ein Laserstrahl ungenau seine Silhouette nachzeichnet, die dann, wenn die Bühnenfläche sich zu drehen beginnt, über ihn hinauswandert oder schrumpft und gerade, wenn er wegläuft, auch verschwindet. Oder auch noch das von Sven-Ake Johannsson, der als weißer Kopf in einem grell ausgeleuchteten Kasten steckt und mit ironischen Verhaspelungen den Tagebuchtext aufsagt, in dem der Geschichtsforscher Schliemann sein Erstaunen und Erschrecken vor den Fröschen und Störchen im Frühjahr beziehungsweise vor den Eulen in den Nischen der von ihm freigelegten Mauern schildert: vor der Natur also, in die sein mythischer Forschungsgegenstand eingebettet ist.

Wer aber in alledem nach Sinn und Kohärenz sucht, mag sich am Schluß fühlen wie in einem „Labyrinth“, in dem es „kein Zentrum, kein Ziel“ gibt, sondern nur „eine unendliche (!) Vielfalt von Wegen, Orten, Verbindungen, von Bedeutungen, Täuschungen, Ent-Täuschungen“. Aber das steht auch schon im Programmheft, von der Dramaturgin Ute Becker vor-empfunden. Sie verspricht, es müsse „die Möglichkeit geben, daß alles, was (in Newtons Casino?) WAHRgenommen werden kann, sich zu einem Ganzen“ füge, räumt gleich darauf aber selber ein, diese Möglichkeit könne „eine SCHEINbare sein“. ('Fake‘ 3, S.44)

WAHR, SCHEIN und Ent-Täuschung: Ich liebe solche graphischen Hervorhebungen — sie spreizen einen Text auch dort noch zu tiefer Bedeutungshaftigkeit, wo es ihm ohne diese Zier daran zu gebrechen drohte.

Und damit bin ich bei meinem Vorbehalt gegen das ganze Unternehmen: Warum einer gut anhör- und damit brauchbaren Musikcollage, einer sauber ausgearbeiteten und sowohl im Vortrag der Darsteller als auch in den visuellen Effekten der sich bewegenden Bühnenplastik eindrucksvollen Szenenfolge eine prätentiöse Bedeutung aufbürden, die sich auch nach ausgiebiger Lektüre der verschiedenen Begleittexte schwerlich darin entdecken läßt? Für ein solches Experimentieren mit Grenzformen des (Musik-)Theaters müßten sich Argumente finden lassen — auch wenn das Ergebnis nur insgesamt dreizehnmal von jeweils 110 Zuschauern zu sehen ist und das TAT inzwischen wegen seiner Ausgaben ins öffentliche Kreuzfeuer geraten ist — ohne derartige nach meinem Gespür verkrampften Versuche, den „philosophischen Aufwand“ auf die Höhe des finanziellen zu heben.

Denn was zurückbleibt, ist nicht etwa eine „Geschichte“ oder gar eine neue „GeschichtsWAHRnehmung“. Die nämlich ist im reinen Hantieren mit „Fundstücken“ nicht zu gewinnen: Es bedarf, bei allen kritischen Vorbehalten, der konstruktiven Tätigkeit (des Epikers, des Historikers), von der das bloße Aneinanderreihen von (zum Teil noch unverständlichen) Zitaten aus Homer und Schliemann keine Vorstellung zu vermitteln vermag. Ohne solche Konstruktion müssen alle „Fundstücke“ beliebig bleiben. Was nicht heißt, daß sich auf der Bühne nicht lustvoll mit ihnen hantieren ließe. Klaus Gronau

Newtons Casino von Michael Simon und Heiner Goebbels. Mit Areti Georgiadou, Sven-Ake Johannsson, Ralph-Daniel Mangelsdorff. Theater am Turm Frankfurt. Weitere Vorstellungen vom 19. bis 22. und vom 27. bis 31.12.