"Bomben des letzten oder schon des nächsten Krieges?"

■ Vor genau fünfzig Jahren besetzten zwei Studenten die Inssel Helgoland/ ...

Von Thorsten Schmidt

1950, fünf Jahre nach Kriegsende, lag die Nordseeinsel Helgoland immer noch in Schutt und Asche. Ein Großangriff einer alliierten Bomberstaffel mit über tausend Flugzeugen hatte am 18.April 1945 sämtliche Gebäude auf der Insel zerstört. Seit Kriegsende nutzte die englische Luftwaffe Helgoland immer wieder zu Übungsbombardierungen. Die Helgoländer Bevölkerung lebte damals verstreut auf 130 Ortschaften in Norddeutschland und mußte der weiteren Zerstörung ihrer Heimat hilflos zusehen. Die Gemeinde Helgoland, so ließen es die alliierten Stellen verlauten, habe faktisch aufgehört zu bestehen.

Die etwa 2.500 Helgoländer Männer und Frauen wurden nicht müde, in zahlreichen Bittschriften, Appellen und Petitionen die Einstellung der Bombardierung und die Rückgabe ihrer Insel für einen Wiederaufbau zu fordern. Überlegungen wurden laut, unter britische oder dänische Staatshoheit zurückzukehren, wenn dadurch eine Freigabe erreicht werden könnte. „Die meisten Helgoländer waren eigentlich ganz unpolitisch und wollten nur heim auf ihre Insel“, erinnert sich der Schriftsteller James Krüss, selbst ein gebürtiger Helgoländer: „Und ob sie deutsch bleiben oder dafür wieder englisch oder dänisch werden müßten, war ihnen im Grunde egal. Ein Helgoländer schrieb einmal in lateinischer Sprache eine Petition an den Papst, obwohl wir auf der Insel damals nur sechs Katholiken hatten. Immerhin, es ging durch die Weltpresse, und der Papst hat für uns gebetet.“

Vom Kalten Krieg zur Wiederbewaffnung

Politiker und Militärs in Großbritannien blieben von den Protesten der Helgoländer Bevölkerung unbeeindruckt. Der Kalte Krieg, die Blockade Berlins und später der Ausbruch des Koreakrieges gaben den Militärs immer neue Argumente für die fast täglichen Bombardierungen der verlassenen Insel. „Wir fragten uns, sind das die Bomben des letzten oder schon die Bomben des nächsten Krieges?“ erinnert sich heute der damals 21jährige Georg von Hatzfeld.

Am 20.Dezember 1950 starteten Georg von Hatzfeld und René Leudesdorff von Cuxhaven aus ihr Helgoland-Abenteuer, das sie einige Tage später in die Schlagzeilen der Weltpresse bringen sollte. Die beiden jungen Studenten aus Heidelberg hatten sich erst wenige Tage vorher bei einer Sitzung des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) kennengelernt.

Die damals von Bundeskanzler Adenauer propagierte Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die Sehnsucht nach einem friedlichen und geeinten Europa ohne Nationalitätengegensätze waren unter den Studenten heiß diskutierte Themen. Die fortwährende Bombardierung einer deutschen Insel durch die britische Luftwaffe paßte so gar nicht zu der ersehnten Versöhnung.

Hatzfeld und Leudesdorff waren begeistert von der Idee, durch eine symbolische Besetzung gegen die fortwährenden Bombardierungen zu protestieren. Am Abend saßen sie noch pläneschmiedend in der Studentenkneipe „Mainzer Rad“ am Heidelberger Universitätsplatz, am nächsten Morgen standen sie schon an der Straße, um per Anhalter über Hamburg und Cuxhaven nach Helgoland zu gelangen. „Unser Plan war sehr spontan gefaßt“, erinnert sich René Leudesdorff heute, „dementsprechend ungenügend waren wir ausgerüstet. Zwei Wolldecken und Proviant für ein paar Tage, das war alles. Und drei Flaggen, die wir auf der Insel hissen wollten, die Bundes-, die Europa- und die grün-rot-weiße Helgolandflagge.“

Die Sache lief „top secret“, nur die nötigsten Unterstützer wurden in die Pläne eingeweiht. „Wir wollten unsere Aktion nicht durch zu viel Plauderei gefährden“, erzählt René Leudesdorff. „Diese Geheimnistuerei hatte etwas von einem Abenteuerroman, ersparte uns aber auch etwaige gutgemeinte Ratschläge.“ In Hamburg bekamen die Beiden Unterstützung von zwei Journalisten der „Frankfurter Abendpost“, die damals größte deutsche Boulevard- Zeitung

Binnen Stunden geht die Meldung um die Welt

Als Fischkutter „Paula“, durch einen Maschinenschaden verspätet, die beiden Studenten kurz vor der Abenddämmerung auf Helgoland absetzte, lag die 'Frankfurter Abendpost‘ mit der Schlagzeile „Friedlicher Handstreich gegen die Insel Helgoland“ schon an allen Kiosken. Die Meldung über das aberwitzige Unterfangen ging binnen weniger Stunden um die Welt.

In den nächsten Tagen beherrschten die Neuigkeiten über Helgoland die Titelseiten der internationalen Presse. Besonders die englischen und amerikanischen Zeitungen nahmen das Thema auf, war doch die fortwährende Bombardierung auch dort nicht unumstritten.

„Das Funktionieren der Presse war für uns lebenswichtig“, betont Leudesdorff, „denn die Bombardierungen erfolgten unregelmäßig und wurden nicht vorher angekündigt. Wenn die Engländer nicht sofort aus der Presse erfahren hätten, daß sich Menschen auf der Insel befinden, wären wir bei einer Bombardierung schutzlos gewesen.“

Aber dies war nicht das einzige Risiko. Leudesdorff: „Als ich Jahre später erfuhr, wie viele Blindgänger und Minen auf der Insel waren, auf die wir mit jedem Schritt hätten treten können, rutschte mir nachträglich das Herz in die Hose.“

In der Nacht zum 23.Dezember hatten die beiden Studenten die Insel verlassen, um vier Tage später — besser ausgerüstet und begleitet von zwei Helgoländern — wieder zurückzukehren. Wie beim ersten Mal diente der alte Flakturm (der heutige Leuchtturm), der als einziges Gebäude auf rätselhafte Weise allen Bomben getrotzt hatte, als notdürftige Unterkunft.

Mittlerweile erhöhte sich die Zahl der Besetzer von Tag zu Tag. Um alle unterzubringen, waren einige Instandsetzungsarbeiten nötig. Georg von Hatzfeld notierte in seinem Tagebuch: „Donnerstag, 28.Dezember — Wir beginnen uns allmählich häuslich einzurichten. Hini Lührs, einer der mitgekommenen Helgoländer, fand in seinem zerstörten Haus einen verrosteten Ofen, und im Keller noch einige Kohlen und Briketts, worauf er sehr stolz ist. So wird ein zweiter Raum hergerichtet.“ Von Komfort konnte dennoch keine Rede sein, es war zum Platzen eng. Hini Lührs in seinem Tagebuch dazu lakonisch: „In dieser Nacht geschlafen wie die Heringe, die gepackt sind. Umdrehen auf Kommando.“

Völlig unerwartete Unterstützung durch deutsche Behörden

Die „Helgoland-Studenten“ hatten mit ihrer Aktion den Nerv der Zeit getroffen. Aufmunternde Briefe und Spenden wurden nach Cuxhaven geschickt. Helgoländer Fischer organisierten tägliche Überfahrten nach Helgoland, um Versorgungsgüter und neugierige Journalisten auf die Insel zu bringen.

Unterdessen fand die Besetzung Unterstützer in unerwarteten Kreisen. Während die Alliierten deutsche Polizeikräfte anforderten, um die Besetzer von der Insel zu holen, entfaltete der zuständige Innenminister Schleswig-Holsteins Paul Pagel (CDU) einigen Ideenreichtum, um dem britischen Ansinnen auszuweichen. Eine in Pinneberg rekrutierte Polizeigruppe war am geplanten Einsatztag total betrunken und nicht einsatzfähig. Auch verweigerte der Chef des Minenräumverbandes Cuxhaven, Adalbert von Blanc, den Befehl, die ihm unterstellten Schiffe zur Festnahme der Inselbesetzer zur Verfügung zu stellen.

Für die Briten war es wie verhext: Zwei ihrer Schiffe havarierten auf der Fahrt nach Helgoland und mußten umkehren. Die Posse fand ihren Höhepunkt, als High Commissioner Sir Ivone Kirkpatrick, nach dem Besatzungsstatut der ranghöchste Alliierte in der britischen Zone, feststellen mußte, daß die Anwesenheit der Besetzer auf Helgoland durch kein bestehendes Gesetz zu unterbinden war. So dauerte es über die Jahreswende, bis die neugeschaffene Ordinanz Nummer 224 Handhabe für eine Räumung der Insel bot.

Hektische Verhandlungen in London

Am 3.Januar 1951 hielten sich schließlich 16 Besetzer auf Helgoland auf. Mit dem englischen Küstenkontrollboot „Royal Eileen“ wurden sie nach Cuxhaven gebracht, wo sie am Abend eine große Menschenmenge jubelnd empfing. Georg von Hatzfeld nachdenklich in seinem Tagebuch: „Wir fangen an, populär zu werden, und das stimmt uns sehr bedenklich. Hoffentlich faßt man unsere Demonstration nicht als nationalistisch auf. Was wir wollen, ist doch klar: Aufhören der Bombardements, Rückgabe der Insel an die Helgoländer.“

Ihre Ziele erreichten die beiden Studenten schneller, als sie erwartetet hatten. In London begannen hektische Verhandlungen. Kirkpatrick warnte vor einem „Palästina im Kleinen“ und befürchtete weitere Besetzungen durch kommunistische Jugendgruppen. Bereits sieben Wochen später gab der britische Premierminister Clement Attlee die Rückgabe Helgolands bekannt — zum 1.März 1952, um das Gesicht zu wahren. Bis dahin sollten aber wei- terhin Bomben auf Helgoland fallen.

Die Jubelschlagzeilen um die angekündigte Rückgabe Helgolands verdrängten die Meldung um eine neuerliche Besetzung der Insel. Sieben Jugendliche hatten sich auf Helgoland absetzen lassen, um an die Besetzung von Leudesdorff und Hatzfeld anzuknüpfen. Da vier Jugendliche dieser Gruppe der West-FDJ zugehörig waren, nutzen die Medien nun den bestehenden Antikommunismus, um diese und die folgenden Inselbesetzungen zu bagatellisieren und mit wenigen Zeilen abzutun.

Dennoch hatte das fortwährende Helgoland-Engagement eine große Sogwirkung auf Jugendliche. Insgesamt 93 Jugendliche beteiligten sich an den fünf von der KPD unterstützen Inselbesetzungen und gingen dafür sogar mehrere Monate ins Gefängnis.

Nationalistische Welle überrollt die gute Absicht

Georg von Hatzfeldt und René Leudesdorff erreichten mit der ersten erfolgreichen gewaltfreien Aktion in der deutschen Nachkriegsgeschichte die Freigabe Helgolands. Die damit verbundenen Ziele aber beurteilt René Leudesdorff heute eher skeptisch: „Das Signal für Europa ist zwar, besonders an den Hochschulen, verstanden worden; insgesamt ist es jedoch von einer nationalen Welle überrollt worden, die das Unternehmen entgegen unseren Intentionen ausgelöst hat. Und der geplante Protest gegen die Remilitarisierung wurde durch den politischen Kontext in sein Gegenteil verkehrt: Denn mit Helgoland haben wir einen Stolperstein auf dem Wege zur militärischen Westintegration der Bundesrepublik aus dem Meer gehoben.