Fernsehen nach dem Lustprinzip

Der französische Kulturkanal La Sept und die Probleme, ein deutsch-französisches Projekt zu realisieren  ■ Von Ute Thon

Szene in einem Pariser Supermarkt: Drei Frauen stehen mitten im Einkaufsgedränge auf einer kleinen Bühne, ein Animateur fordert sie nacheinander auf, etwas über sich zu erzählen. Männer, Frauen und Kinder mit Einkaufswagen bleiben stehen und schauen zu. Zwei Videokameras zeichnen das Geschehen auf. Die Supermarktkunden werden unverhofft zu Statisten einer Fernsehproduktion. Für die Aufzeichnung der aktuellen Inszenierung des Stücks Inventaires von Philippe Minyana hat Regisseur Jaques Renard die Theaterbühne kurzerhand in einen der großen Einkaufstempel verlegt — TV-gerechte Theaterarbeit à La Sept.

Szenenwechsel: Paris, 15. Arrondissement, Quai André Citroen. Am Ufer der Seine, auf dem Gelände, wo einst die formschönen Wagen des großen französischen Automobilherstellers gefertigt wurden, werden heute innovativen Frensehprojekte entwickelt. Im Dschungel der kühnen 70er-Jahre-Hochhausarchitektur verbirgt sich, für Uneingeweihte nicht leicht zu finden, der Sitz des französischen Fernsehsenders La Sept. Etwa 100 kreative Köpfe gestalten hier ein anspruchsvolles Kulturprogramm, runde 1.500 Stunden Dokumentarisches, Magazine, Theateraufzeichnungen, Jugendsendungen und Spielfilme im Jahr. Einer von ihnen ist Guillaume Gronier, verantwortlich für die „Unité de Programme Spéctacles“ und somit auch für jene Theateraufzeichnung im Supermarkt. Seine Aufgabe sieht er darin, „das kulturelle Erbe Frankreichs darzustellen“. Große Worte, aber er meint das auch ganz praktisch, nämlich dem Publikum Inszenierungen zu präsentieren, die sie sonst nicht sehen könnten, weil Theaterkarten, etwa für die Pariser Oper oder die Comédie Fran¿aise, teuer und zudem nur schwer zu kriegen sind. Dabei liegt Gronier, ehemals stellvertretender Direktor des Theatertreffens in Avignon, besonders daran, neue, fernsehgerechte Formen für Theater, Tanz und Musikveranstaltungen zu entwickeln. Ein elitäres Programm für eine kulturbesessene Minderheit, doch, so betont Gronier, ihre Brecht-Adaption des Guten Menschen von Sezuan hätten immerhin rund eine Million Zuschauer gesehen: „Samstags um 21 Uhr!“

Geisterfernsehen in D-2-Mac-Norm

Normalerweise sind die Einschaltquoten von La Sept viel geringer, nicht wegen des Programms, sondern wegen der begrenzten Empfangsmöglichkeiten. Der nichtkommerzielle Kultursender, 1986 von der sozialistischen Regierung als Antwort auf die zunehmende Verflachung des französischen Fernsehens gegründet, sollte eine neue Medienära einleiten. Seit seinem Start im vergangenen Sommer wird La Sept über den französischen TV-Satelliten TDF1 ausgestrahlt, in der von Frankreich favorisierten neuen D-2- Mac-Fernsehnorm, zu deren direktem Empfang außer einer Satellitenschüssel auf dem Dach noch ein teurer Decoder nötig ist. Die Franzosen zeigen sich jedoch bislang nicht besonders innovationsfreudig. Nur ein paar tausend Haushalte empfangen La Sept direkt, kein Wunder, denn TDF1 hat außer dem teuren Kulturprogramm nichts weiter zu bieten. Und auch die Kabelkunden lassen auf sich warten. Frankreich zählt derzeit nur knapp 400.000 verkabelte Haushalte (gegenüber rund vier Millionen in der Bundesrepublik). Um nicht zum totalen Geisterfernsehen zu verkommen, darf La Sept darum samstags fünf Stunden auf der terrestrischen Frequenz des staatlichen Senders FR3 gastieren — mit großer Resonanz, wie die La-Sept-Mitarbeiter versichern. Georges Duby, Historiker mit internationalem Renommée, Professor am Collège de France und ganz nebenbei auch noch Vorsitzender des Aufsichtsrats von La Sept, hofft, daß es gelingt, La Sept ab März 1991 am Abend auf die terrestrische Frequenz des Jugendkanals „J“ aufzuschalten. Dann könnten zehn Millionen Haushalte erreicht werden. Bislang jedoch werden La-Sept-Produkte wahrscheinlich häufiger im Kino gesehen als zu Hause am Fernseher.

Georges Goldenstern, Leiter der „Unité Fiction“ hat in diesem Jahr zehn Kinofilme und 78 Fernsehfilmstunden produziert, besser gesagt koproduziert, denn bei einen Geamtbudget von 40 Millionen Francs für seine Unité kann der Sender nicht als alleiniger Produzent auftreten. Grundprinzip bei der Auswahl geeigneter Drehbücher sind orginäre Geschichten, keine „Eurosoße“. Die Produktionen werden hier wie auch in den vier anderen Unités (Spéctales, Dokumentaire, Jeunesse, Magazine) grundsätzlich in Auftrag gegeben. So kann der Mitarbeiterstab in der Zentrale so klein und effektiv wie möglich gehalten werden. Investitionskosten für Produktionstechnik fallen erst gar nicht an. Auf internationalen Filmfestivals werden La- Sept-Koproduktionen regelmäßig mit Preisen bedacht. Jüngstes Beispiel ist der sowjetische Spielfilm Taxi Blues von Pavel Lounguine, der dafür in Cannes den Regiepreis bekam. Auch die Liste prominenter Regisseure, die mit La Sept zusammenarbeiten, kann sich sehen lassen: Manuel de Oliveira, Agnes Varda, Theo Angeolopoulos, Claude Chabrol, Frederico Fellini.

Auch die „Unité Dokumentaire“ kann mit prominenten Namen aufwarten. Mindestens genauso stolz sind Thierry Garrel und Claire Doutriaux aber auch über ihre kulturellen Miniserien, zum Beispiel Contacts. In 13 Folgen werden bekannte Fotografen anhand ihrer Arbeiten vorgestellt. Während die Kamera langsam über einen Kontaktbogen schwenkt, erzählt der Fotograf, warum er das eine oder andere Foto ausgewählt hat. Oder La Collection: sechzig kurze Zweiminutenimpressionen zu jeweils einem Kunstwerk der Moderne — eigenwillig, schlicht und überzeugend. Auffällig ist, daß man sich hier an standardisierte Sendelängen ebenso wenig hält wie an den sogenannten Massengeschmack, der deutschen Fernsehbürokraten oft genug als Meßlatte dient.

Fragt man nach Zielgruppen, erntet man bei La Sept meist nur erstauntes Achselzucken. Das Kulturfernsehen sei ein Angebot an alle, entgegnet Claire Doutriaux. Durch die Wiederholung der wöchentlich 21 Stunden Erstausstrahlung zu verschiedenen Zeiten und Tagen erhofft man ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Doch, und darüber sind sich die kreativen FernsehmacherInnen bei allem Enthusiasmus einig, ein Massenpublikum wird man mit dem anspruchsvollen La-Sept-Programm niemals erreichen. Wichtiger ist die Funktion des Senders als Versuchslabor für neue Fernsehformen. Ähnlich wie Channel Four in Großbritannien , bietet auch La Sept den Film- und Fernsehautoren die Möglichkeit, ein wenig mehr zu wagen, als im großen, öffentlich-rechtlichen System möglich wäre.

Deutsch-französischer Kulturkanal — Szenen einer Eheanbahnung

Man könnte die Franzosen schon beneiden um dieses ambitionierte Projekt, wären sie selbst nicht so unzufrieden mit dem Stand der Dinge. Mit der Gründung La Septs war stets mehr verbunden als nur die Etablierung eines neuen französischen Fernsehkanals. Als „erster öffentlich-rechtlicher Kulturkanal“ wollte man besonders dem europäischen Gedanken Rechnung tragen. Ganz konkret dachte man an die kulturelle Zusammenarbeit mit dem Nachbarstaat Deutschland, die von Politikern diesseits und jenseits des Rheins doch immer wieder beschworen wird. Ein „deutsch-französischer Kulturkanal“ gemeinsam veranstaltet von ARD, ZDF und La Sept sollte es werden. Für La Sept ist diese Zusammenarbeit mittlerweile zur Existenzfrage geworden, oder wie Michel Anthonioz, stellvertretender Generaldirektor von La Sept, es ausdrückt: „Ohne den deutsch-französischen Vertrag würde es La Sept nicht mehr geben.“

Zwar wurden für das gemeinsame Projekt schon beträchtliche Hürden genommen, aber mit dem Ringetauschen tun sich die Heiratskandidaten immer noch schwer. Denn, die Partner sind höchst verschieden. Dort ein staatsnahes, zentralistisches Rundfunksystem, hier föderalistische Anstaltswirtschaft. Über siebzig schwierige Arbeitssitzungen hat es gekostet, bis am 11. Dezember in Mainz endlich der Vertrag zur Gründung der deutschen Partnergesellschaft unterzeichnet werden konnte. Ihren Sitz wird sie in Baden-Baden haben. Als Zentrale des deutsch- französischen Projekts wurde Straßburg auserkoren, auch um längerfristig den europäischen Gedanken zu betonen. Als Sendebeginn ist September 1991 anvisiert.

Auf der letzten ARD-Hauptversammlung Ende November in Frankfurt gab ARD-Chef Hartwig Kelm endlich grünes Licht, obwohl seine eigene Anstalt, der HR, sowie SFB und WDR dem Projekt ihre Zustimmung immer noch verweigern. Als Argument für die Unentschlossenheit wird die unklare Finanzsituation genannt. 300 Millionen Francs sollen die Deutschen 1991 aufbringen, während La Sept 507 Millionen Francs einbringt. Die Finanzierung soll auf deutscher Seite durch eine Gebührenanhebung um 75 Pfennig gedeckt werden. Da diese allerdings erst für 1993 vorgesehen ist, wollen die hiesigen Anstalten vorerst nur 90 Millionen Francs auf den Tisch blättern und den Rest durch Programme beisteuern. Außerdem setzt man auf Sponsoren. Während La Sept schon jetzt von Air France und der Werbeargentur Havas unterstützt wird, hofft man auf deutscher Seite auf Mercedes, Deutsche Bank und VW.

Seit der Wiedervereinigung mehren sich die kritischen Stimmen. Man brauche das Geld jetzt nötiger für den Aufbau der Sendeanstalten in den neuen Bundesländern, heißt es in den Aufsichtsräten der deutschen TV- Anstalten. „Angespannte Haushaltslage“ und überhaupt, wozu noch ein teures „Kulturgetto“ finanzieren, wo ARD und ZDF bereits je ein Kulturprogramm via Satellit betreiben: Eins plus und 3sat. Tatsächlich aber war der deutsch-französische Kulturkanal nie ein sonderlich geliebtes Kind der Deutschen.

Mehr aus Gewissensgründen als aus echten Enthusiasmus stimmten die Fernsehverantwortlichen dem Projekt zu, denn sonst stehe die Glaubwürdigkeit der deutsch-französischen Achse, ja sogar Europas auf dem Spiel, drohten die Franzosen. Es bestehe gar die ernsthafte „Gefahr, in der Mittelmäßigkeit zu versanden“, prophezeite La-Sept- Präsident Jérôme Clément mehr als einmal, um ganz und gar unbescheiden für „sein“ Projekt zu werben. Genau da liegt der Unterschied zwischen den deutschen und den französischen Interessen. „Wir haben Lust auf das Projekt“, erklärt Clément. Während man in Paris ungeduldig der Realisierung entgegenfiebert, mit manchmal allzu hochgesteckten Zielen (der Kulturkanal als „Antwort auf die Frage der europäischen Identität“), auf alle Fälle aber mit viel Verve und Energie, steitet man sich in Deutschland über Rechtsvorschriften.

Vergangenen Dienstag jedenfalls trennten sich die Vertragspartner nach einem Sechs-Augen-Gespräch der Intendanten ohne konkrete Ergebnisse, obwohl doch eigentlich erste Personalentscheidungen für die Besetzung der Zentrale in Staßburg getroffen werden sollten. Bei der Vergabe der fünf Spitzenpositionen (Präsident, Vizepräsident, Programmdirektor, Verwaltungsdirektor und Direktor der deutsch-nationalen Stelle in Baden-Baden) schielen die Franzosen unverhohlen auf das Amt des Präsidenten und des Programmdirektors, doch Beharren will man dem Projekt zu Liebe darauf nicht. Bei dem „Meinungsaustausch“ der drei Fernsehchefs, so war anschließend aus dem Hause des Südwestfunks zu erfahren, sei es in erster Linie wieder um die leidige Normfrage gegangen — die französische Regierung hängt immer noch an ihrem defizitären TV-Satelliten und der umstrittenen D-2-Mac-Norm. Aber ansonsten herrsche „größte Harmonie“, vesicherte SWF-Justiziar Jörg Rüggeberg. Man wird sich wieder treffen im neuen Jahr, und irgendwann wird auch die Mannschaft für dieses Projekt stehen. Bleibt nur zu hoffen, daß den agilen französischen TV-Matadoren bis dahin nicht alle Flausen mit deutscher Gründlichkeit ausgetrieben wurden und daß kreative deutsche FernsehmacherInnen mitziehen — solche, die das Medium lieben und nicht bloß verwalten, denn auch die soll es bei ARD und ZDF schließlich geben.