Weise Frau, Rebellin

■ Eine feministische Legende über die Mutter der Maria

Weihnachten steht vor der Tür, aber bei Jesus und Maria — was gibt es da noch zu erzählen? Jesus — der neue Mann? Oh Herr, schweigen wir. Erika Wisselinck aber, Autorin, Frauenforscherin, erzählt die Geschichte der heiligen Familie in einer verblüffend neuen, anregenden und ganz und gar undogmatischen Version, aus der Perspektive der Anna, der „Mutter der Maria“.

Diese Anna wurde in der katholischen Legendenbildung zur Patronin der unfruchtbaren Frauen; die Anna in der Interpretation, der „Gegenlegende“ von Erika Wisselinck, ist eine kluge alte Frau, eine „Heilerin“, begabt mit einem rebellischen Geist, die im Laufe ihres Lebens viel begriffen hat über die ungleichen Verhältnisse zwischen Männern und Frauen und über die Unterschiede zwischen männlicher (Herrschafts-)Religion und weiblicher Spiritualität. Diese Anna also, eine waschechte Feministin, hält Rückblick auf ihr Leben; was sie bei aller Weisheit und Abgeklärtheit immer noch umtreibt, ist die Frage: Was ist mit ihrer einzigen Tochter Mirjam, die „dem Tempel geweiht“ war, damals tatsächlich passiert? Das „göttliche Kind“ von dem die Tochter sprach, bevor sie, um einen Skandal in Jerusalem zu vermeiden, nach Nazareth zu dem Zimmermann Josef abgeschoben wurde, war dieses Kind, eines der Lust oder der Gewalt? Erika Wisselinck erzählt ihre Geschichte spannend und kenntnisreich; aber natürlich ist Anna im goldenen Tor kein historischer Roman, sondern die glaubwürdigste Weihnachtsgeschichte, die für Feministinnen je geschrieben wurde. lu

Erika Wisselinck: Anna im Goldenen Tor. Die Gegenlegende über die Mutter der Maria. Kreuz Verl., Stuttgart 1990, 29,80 DM