Schmücker-Prozeß darf nicht enden

Generalstaatsanwalt beim Kammergericht verbietet die geplante Einstellung des Prozesses/ Beispielloser Eingriff in ein laufendes Verfahren/ Verteidiger: „Skandalöses Vorgehen“  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Ausnahmsweise schien in dem Prozeß um die Ermordung des Berliner Studenten Ulrich Schmücker einmal alles einen sinnvollen Gang zu gehen: Im nunmehr vierten Durchgang des längsten und skandalträchtigsten Gerichtsprozesses der bundesdeutschen Justizgeschichte war ein definitives Ende in Sicht. Nach einer mehrmonatigen Beweisaufnahme waren sich sowohl Verteidigung als auch Anklagevertreter darin einig, daß angesichts der unzähligen Verfahrenshindernisse und Einmischungen von außen ein fairer Prozeß nicht mehr möglich ist. Für gestern, den insgesamt 584. Verhandlungstag, hatte die Staatsanwaltschaft deshalb signalisiert, sie werde einer Einstellung des Verfahrens zustimmen. Damit wären die Weichen gestellt worden, daß das Gericht Anfang Januar die Akten dieses unendlichen und unrühmlichen Prozesses per Einstellungsurteil für immer hätte schließen können.

Doch dann platzte die Bombe: Mit einer dienstlichen Weisung hat der Generalstaatsanwalt beim Berliner Kammergericht, Dietrich Schultz, den Staatsanwälten im Schmücker- Verfahren verboten, der Einstellung des nunmehr 15 Jahre andauernden Verfahrens zuzustimmen. Sollte das Gericht das Verfahren dennoch einstellen, werden die Anklagevertreter darüber hinaus verdonnert, dagegen Rechtsmittel einzulegen.

Eine solch massive Einmischung einer obersten Dienstbehörde in ein laufendes Verfahren ist in der bundesdeutschen Justizgeschichte beispiellos. „Eine Weisung dieser Art“, so der brüskierte Generalstaatsanwalt beim Landgericht, Hans-Joachim Heinze, „hat es bisher nicht gegeben“. Die Order von seinem obersten Dienstherrn Schultz sei „plötzlich und überraschend“ gekommen. Generalstaatsanwalt Heinze hatte im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten beim Kammergericht eine Einstellung des Mammutverfahrens befürwortet. „Mit einer rechtsstaatlichen Aufklärung und einem ,fair trial‘“, davon zeigte sich Heinze auch gestern überzeugt, „ist in diesem Verfahren nicht mehr zu rechnen“. Zu lang sei die Liste von Verfahrenshindernissen und Einmischungen von außen in diesen Prozeß.

Die Liste dieser Einmischungen von außen sei nun um ein weiteres Kapitel erweitert, kritisierten die Verteidiger im Schmücker-Prozeß gestern. Die Direktive von oben sei ein „skandalöser Vorgang“. „Alte Seilschaften“ seien am Werk, wetterte Anwalt Rainer Elfferding und zielte dabei auf die umstrittene, von der rot-grünen Koalition aufgelöste alte Politabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft. In anderen Staaten, so Verteidiger Bernd Häussler, wären die Angeklagten wegen dieser Prozeßhindernisse, Einmischungen von außen und Vorverurteilungen durch die Presse längst freigesprochen worden. Berlins Chefankläger Schultz hatte seine Weisung damit begründet, daß der Bundesgerichtshof 1989 das Urteil des dritten Durchgangs des Schmücker-Prozesses zwar aufgehoben hatte, dabei aber keine Verfahrenshindernisse geltend gemacht hatte. In der Zwischenzeit hat jedoch längst ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß neue Erkenntnisse über die Verwicklungen des Verfassungsschutzes in den Mordfall Schmücker nachgewiesen und eine Unmenge von bisher dem Gericht vorenthaltenen Akten zutage befördert. Auch der vierte Durchgang des Schmücker-Prozesses hatte sich in den letzten Monaten ausschließlich mit diesen Verfahrenshindernissen beschäftigt und dabei neue Unglaublichkeiten ans Licht gebracht. Dabei war vor allem deutlich geworden, wie sehr auch die Justiz selbst in heimliche Aktivitäten des Berliner Verfassungsschutzes verstrickt war. So mußte zum Beispiel der frühere Staatsanwalt im Schmücker-Prozeß, Müllenbrock, eingestehen, daß er von Anfang wußte, daß der Verfassungsschutz die mutmaßliche Mordwaffe jahrelang unter Verschluß hielt. Und die Richter des zweiten Durchgangs des Schmücker-Prozesses, die die Hauptangeklagte Ilse Schwipper zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt hatten, gaben zu, daß sie heimliche Absprachen mit der Staatsanwaltschaft getroffen hatten. So hatten sie beispielsweise Stillschweigen darüber bewahrt, daß ein Komplize der mutmaßlichen Täter, Volker von Weingraber, ein V-Mann des Verfassungsschutzes war.

Wenn das Verfahrens jetzt weitergeführt wird, dann — so kündigten die Verteidiger gestern an — werden die weiteren Verfahrenshindernisse nur so „raussprudeln“. Mit Beweisanträgen werden man vor allem die Rolle der Justiz in diesem Verfahren beleuchten. Dabei würde der Generalstaatsanwalt des Kammergerichts selbst gezwungen sein, Vermerke auf den Tisch zu legen, die einen „Deal“ der Staatsanwaltschaft mit einem V-Mann belegen.

Unabhängig von diesen Anträgen beharren die Verteidiger darauf, daß die 18. Große Strafkammer über ihren Antrag zur Einstellung des Verfahrens entscheidet. Sollte das Gericht den Prozeß einstellen, müßte die Staatsanwaltschaft jetzt jedoch gemäß der Weisung von oben dagegen Rechtsmittel einlegen. Der Mordfall Schmücker würde zum vierten Mal beim Bundesgerichtshof landen und müßte möglicherweise zum fünften Mal aufgerollt werden. Wird das Verfahren jedoch weitergeführt, ist mit einer Rekordprozeßdauer zu rechnen, die die des letzten Durchgangs noch übersteigt — und der dauerte immerhin fünf Jahre. Der schon zu Ende geglaubte Schmücker-Prozeß wird nun zunächst am 28. Dezember fortgesetzt.