Der Bischof, die Lady und ihre Anhänger

Zum Rücktritt des anglikanischen Erzbischofs Robert Runcie  ■ Von Roger Willemsen

Am 1.Januar 1991 tritt eine der bekanntesten Figuren des öffentlichen Lebens in England, protokollarisch die höchste Person im Staat nach der Queen, vorzeitig in den Ruhestand. Robert Runcies Amtszeit verlief fast parallel zu der Margret Thatchers, und viele Engländer haben in ihm das pietistische Gegengift zur Eisernen Lady gesehen, während andere in seinem Versuch, die Kirche stärker sozial zu engagieren und politisch zu formieren, kaum mehr als einen bloßen Integrationsversuch erkennen wollten — im Hinblick auf jene Bevölkerungsgruppen, die der anglikanischen Kirche schon seit langem in Scharen davonlaufen.

Als Robert Runcie im März 1980 zum Erzbischof von Canterbury ernannt wurde, war die Verwunderung groß. Der krasse Außenseiter, Sohn eines Elektroingenieurs und einer Friseuse, galt nicht gerade als Inbegriff eines Primas der weltweiten anglikanischen Kirche: sein Elternhaus war keineswegs christlich, seine Taufe kam relativ spät, die höchste Auszeichnung hatte er 1945 als Panzerkommandeur der schottischen Garde erhalten. Indessen brauchte die englische Staatskirche dringend einen liberal-konservativen Mann, einen Kommunikator und Integrator, der die inneren und äußeren Turbulenzen der ehrwürdigen Institution zu schlichten wußte.

Die inneren Turbulenzen resultieren im wesentlichen aus dem Streit der „High-Church“-Anhänger, die sich auf Tradition und Dogmen der katholischen Kirche berufen, mit denen der „Low Church“, die einem sozial engagierten Protestantismus zuneigen, und den Vertretern der „Broad Church“, die sich um eine Vermittlung der Positionen bemühen. Die äußeren Turbulenzen bestehen vor allem in der ökonomischen Situation der Kirche, die in England nicht durch Steuern, sondern durch Spenden und durch Verkauf und Vermietung von Kirchenräumen finanziert wird. Über 2.000 ihrer ehemals 16.000 Gotteshäuser mußte die Kirche in den letzten drei Jahrzehnten schließen, nur noch die Hälfte aller Kinder aus anglikanischen Familien werden getauft, nur ein Drittel aller Paare lassen sich anglikanisch trauen, die Zahl der Priesterweihen und Kirchenbesucher nimmt drastisch ab.

Die Erblast, die Runcie übernahm, war also schwierig, und er bewies Voraussicht, als er sich zum Schutzpatron St.Alban, den ersten Märtyrer Englands, wählte. „Alban war ein Mensch. der immerzu suchte und doch nie alle Antworten bereithielt“, sagte Runcie. Die meisten Engländer werden denn auch, wenn er am 1.Januar 1991 aus dem Amt scheidet, vor allem an die Konflikte denken, die er auslöste und die ihn merkwürdigerweise nicht einmal in den Ruf eines streitbaren Mannes gebracht haben, sondern im Gegenteil, in den eines Kompromißlers, Zauderers und sogar Opportunisten, der sich zu oft an die allgemeine Meinung angebiedert habe.

Zum Beispiel bestand Runcie zwar auf der Eigenständigkeit der anglikanischen Kirche, ging aber 1989 in seinen dogmatischen Zugeständnissen an den Papst so weit, daß er sich, aus Rom zurückgekehrt, von dem nordirischen Kirchenmann und Europa-Abgeordneten Ian Paisley als „Erz-Teufel und Verräter der Reformation“ beschimpfen lassen mußte. Wenig half es, daß sich Runcie auf Gott selbst berief, der „die Einheit aller Menschen“ in der kirchlichen Gemeinschaft gewollt habe, der Papst war weder in der Unfehlbarkeitsfrage noch im Disput um die Ordinierung von Frauen zu Priesterinnen und Bischöfinnen zum geringsten Einlenken bereit. Während also in der anglikanischen Kirche Frauen längst mit Kirchenämtern betraut werden dürfen und in Massachusetts mit Barbara Hartis bereits ein Bischöfin ordiniert, drohen konservative Anglikaner wegen dieses „Zugeständnisses“ mit kollektiven Austritten und Konversion zur katholischen Kirche. Schließlich konnte sich der Primas nur zu einer kompromißlerischen und in sich widersprüchlichen Position durchringen: weibliche Priesterweihe, gut, weil es „keine theologischen Gründe dagegen“ gebe, weibliche Bischofsweihe: nein! Mit solchem Schlingern war der liberale Flügel nicht zu überzeugen: er forderte als nächstes, daß Gott in der Liturgie nicht mehr mit männlichem Geschlecht angeredet werde und daß Homosexualität von der Kirche weder negativ bewertet werde noch die Zulassung zum Priesteramt behindern könne. Runcie wich aus, untersagte seinen Priestern jede öffentliche Auseinandersetzung mit der Homosexuellenfrage und überließ der Synode die Kompromißentscheidung: zwar sei gleichgeschlechtliche Liebe, so wurde formuliert, „nicht unter allen Umständen“ als „Sünde“ zu bezeichnen, doch erreiche sie ebensowenig „das Ideal“ der biblischen Offenbarung.

Mehr Mißstimmigkeiten kamen aus den beiden Flügeln der eigenen Reihen: David Jenkins, der als extrem liberal berüchtigte Bischof von Durham, ketzerte publikumswirksam, er glaube weder an die Jungfräulichkeit Mariens noch an Jesu Wunder und seine Auferstehung, den er „einen Zaubertrick mit Knochen“ nannte. Runcie wich der öffentlich geforderten Maßregelung aus, beschied aber die Protestler, der Schaden, den Jenkins anrichte, werde am Ende doch Gutes hervorbringen.

Solcher Duldsamkeit wiederum opponierte Rancies Freund und geistlicher Berater, der konservative Theologe und Kanonikus Gareth Bennett. Anonym, wie es seit neunzig Jahren Brauch ist, griff er im Vorwort zu „Crockford's Clerical Diretory“ den Erzbischof scharf an: er sei prinzipienlos, verwässerte Theologie und Ethik, richte sein Mäntelchen nach dem Wind und füge der Kirche Schaden zu. Der anschließende Aufruhr um den anstößigen Text erreichte ein solches Ausmaß, daß die Verfasserschaft erstmalig in der Geschichte des „Crockford's“ gelüftet wurde. Bennett brachte sich daraufhin um. Neben seiner Leiche fand man die Offerte einer Boulevardzeitung, die ihm 10.000 Pfund für den Fall bot, daß er sich in einem Artikel öffentlich zu seiner Verfasserschaft bekenne. 47 Prozent der anglikanischen Geistlichen nannten in einer anschließenden Umfrage Bennetts Kritik berechtigt.

Die erbittertste Kontroverse führte Runcie mit Thatcher. Diese hatte zwar traditionsgemäß die poltische Entscheidung über Runcies Ernennung gehabt, mußte aber bald feststellen, daß auf seinen Konservatismus in politischen und sozialen Fragen kein Verlaß war. Den ersten Schlag führte Runcie anläßlich seiner Nach-Falkland-Predigt in Saint- Paul's-Cathedral. Absichtsvoll vermied er das Wort „Sieg“ und gedachte stattdessen auch der rund tausend gefallenen argentinischen Soldaten. Die konservative Presse diffamierte den Erzbischof als Vaterlandsfeind.

Runcie protestierte auch gegen Englands atomare Hochrüstung, die Stellung der Regierung im Bergarbeiterstreik, die Verelendung der Industriestädte, die Einschnitte in der sozialen Versorgung, die einseitige Mittelstandsförderung durch Steuergesetze. In Anwesenheit der Königin sagte er in einem Gedenkgottesdienst nach dem Bergarbeiterstreik: „Wir brauchen nicht erst nach Äthiopien zu schauen, um die Düsterkeit von Krankheit, Tod und Katastrophe zu finden.“ Solche und ähnliche Sätze nannten konservative Politiker einen „bewußten Angriff auf die gegenwärtige Regierung“ und eine Verzerrung der Tatsachen. Runcie hingegen führte an, daß das Gefühl der Ungerechtigkeit und Ohnmacht unter anderem für die Polarisierung und wachsende Gewalttätigkeit in Großbritannien verantwortlich sei: „Wir dürfen unsere Zukunft nicht einfach in den Händen der Mächtigen lassen.“

Trozt solcher Parteinahmen wird Runcie in die anglikanische Kirchengeschichte wohl als Mann des Mittelwegs eingehen. Das scheint ihn nicht zu bekümmern. „Wenn jemand kommt“, sagte er in einem Abschiedsinterview, „und sagt, es ist doch nicht schwer und kostet deine eigene Seele nicht viel, dem Mittelweg zu folgen, wenn jemand glaubt, man brauche es doch nur jedem rechtzumachen wie ein Chamäleon, dann soll er nur kommen und es versuchen und die Schrift auslegen und seine Gebete tun und sich dabei bemühen, die Kirche zusammenzuhalten. Dann wird er nämlich rausfinden, wie wesentlich leichter es ist, sich statt dessen an eine bestimmte Sicht der Religion, an eine bestimmte dogmatische Gruppierung anzupassen, und sich zu sagen: den Rest soll der Teufel holen.“ Danach soll Runcie etwas Seltenes getan, nämlich gelacht haben.