Die Verwesung bestmöglich zu fördern

In Wien eröffnete zu Mozarts 199. Todestag die Ausstellung „Zaubertöne“  ■ Von Frieder Reininghaus

Daß das Verhältnis Mozarts zu den Wienern und dieser zu Mozart in den letzten Lebensjahren des Meisters von besonderer Zuneigung geprägt gewesen wäre, läßt sich bei genauerer Betrachtung der Tatsachen nicht diagnostizieren. Die Enge in Salzburg hatte er nicht mehr ausgehalten, mit dem fürstbischöflichen Hof sich überworfen; in München aber, auch mit dem Idomeneo, nur mäßigen Erfolg eingespielt. 1781 bot Wien, mit 200.000 Einwohnern die größte Stadt des Kontinents, für Wolfgang Amadeus Mozart die aussichtsreichste Perspektive und erschien ihm, wie er dem Vater schrieb, für sein Metier „der beste Ort von der Welt“. Nach den respektablen Ergebnissen der Entführung aus dem Serail und des Figaro, der Konzert- und Unterrichtstätigkeit, kam der junge Mann aus der Provinz in Wien, wie ihm der salzburgische Hofkämmerer Graf Arco prophezeit hatte, zunehmend aus der Mode. 1786 streckte er — erfolgreich — die Fühler nach Prag aus. Eine Ortsveränderung nach London wurde in Betracht gezogen, die Möglichkeit eines Umzugs nach Rußland oder Preußen ventiliert. Mozart erwartete einen anderen Grad der Akzeptanz, Unterstützung, Bewunderung und Verwöhnung in seiner Wahlheimatstadt — und die Wiener wohl Unterhaltsameres und Geschmackskonformeres von ihm.

Als er dann, 10 Jahre nach dem Umzug in die Haupstadt des Reichs, für eine Gebühr von acht Gulden und 56 Kreuzer in einem Schachtgrab einen ruhigen Plazt gefunden hatte, begann man allmählich auch in Wien das „Genie“ anzuerkennen, zu vergöttern, zu verwerten und zu verzuckern. Mozarts Musik wurde erhöht und angehimmelt. Gegenüber solcher Rezeption verhält sich die Ausstellung Zaubertöne durchaus kritisch, verweist auf die nüchternen Fakten des Lebens, die Dokumente des Kontexts und das zur Schau zu stellende Material des ausgehenden 18. Jahrhunderts, welches das Umfeld des einzigartigen Lebenswerks beleuchtet. Die „Ernüchterung“ der Betrachtungsweise ist das erklärte Ziel des ehrgeizigen Unternehmens. „Versachlicht“ soll das Verhältnis zu Mozarts Musik werden, die mit soviel Sehnsucht besetzt ist, mit erotischen Projektionen und mancherlei Seelenmüll.

Zugleich profitiert auch diese Ausstellung von der Sogwirkung des großen Namens: vom kulturindustriellen Markenartikel Mozart. „Die Musik“, so lautet eine Inschrift an zentraler Stelle, „kommt von Mozart und Philips“. So ließ sich der wichtigste Sponsor des 80-Millionen- Schilling teuren Unternehmens verewigen — gegenüber der Verkaufsstand für die CD-Gesamtedition der Werke Mozarts (mit dem roten Label des niederländischen Medienkonzerns). Die Konditoren-Innung steht nicht auf der Liste der steuerbegünstigten Spender für die Ausstellung. Sie muß auf dieser Ebene nichts mehr für die Absatzförderung unternehmen: Selbst auf dem Flughafen von Hongkong gehört die Mozartkugel zu den Verkaufsschlagern.

Akkurat 199 Jahre nach dem letzten Umzug Mozarts — dem auf den Sankt-Marx-Friedhof — öffnete die Ausstellung Zaubertöne im Künstlerhaus am Karlsplatz ihre Pforten. Der Titel ist ein beziehungsreiches Zitat: Zaubertöne meinte der junge Franz Schubert zu vernehmen, als er im Zuge der ersten großen Mozartwelle seiner Musik intensiver begegnete. Mittlerweile ist dieser Kontinent der abendländischen Tonkunst weitgehend entzaubert. Er ist gründlich erforscht und vieltausendfach umschrieben, wird ständig benutzt. Ein bevorzugtes Terrain der medialen Aufbereitung. Und nun gar Stoff für eine Ausstellung des Historischen Museums.

Zaubertöne sind es nur bedingt, die uns umfangen, wenn wir in den niedrigen Gang eintauchen, der sich durch die Einbauten der Bühnenbildnerin Gae Aulenti durch das Wiener Künstlerhaus schlängelt. Jeweils rechter Hand die Objekte, die an die kulturelle Entwicklung im allgemeinen erinnen und an die gesellschaftlichen Zustände im Wien der Mozart- Zeit, zur Linken die Dokumente zur Mozarts Leben und Werk. Über dem Trampelpfad der Schaulustigen aber schwebt die Musik; Zuschauerinnen und Ausstellungsgänger werden pausenlos von oben beschallt mit den akustischen Resultaten dessen, was sich seitwärts gedruckt findet oder worauf die historischen Zeugnisse anspielen.

Für jeden Wegabschnitt in Mozarts Leben wurde eine spezielle Musikmischung angerichtet: kleine Appetithäppchen der historischen, auf Hochglanz zubereiteten Musikkultur. Eiun Kunstprodukt der modernen Aufnahme-, Konservierungs- und Schnittechnick. Nicht immer ohne Ruck und Reibung diese Musik- Montage. Nicht unähnlich auch dem, was zum Start der Austrian- Airlines-Maschinen zur Unterdrückung der Nervosität verabreicht wird. In den Grenzbereichen der Ausstellungskapitel überlagern sich die Musikberieselungsquellen zur grauen Tonbrühe. Vielleicht will das aber auch als postmodern-innovativer Umgang mit dem heiligen Kulturgut verstanden sein.

In der Eingangszene ein sinniges Zitat von Friedrich Wilhelm Marpurg aus dem Jahr 1756: „Nothwendig mag es wohl nicht seyn, aber die Erfahrung bestätigt doch, daß viele große Genies nicht auch die artigste Lebensart haben. Solche Köpfe können vielleicht nicht so vortrefflich seyn, wenn sie dem unwiderstehlichen Hang ihrer Seele zu ihrer Kunst und Wissenschaft durch Bemühungen und Handlungen unterbrächen, ohne welche sich eine gute Lebensart nicht erlangen läßet.“ Das ist höflich ausgedrückt und besagt, daß so mancher große Geist nicht nur auf zeitraubende Rituale des wohlanständigen Lebens verzichtet, es an nötiger Vorsorge für sich und die Seinen fehlen läßt oder gar in einzelnen Bereichen des Lebens sich durchaus säuisch benimmt. „Die großen Helden sind selten zugleich die artigsten Hofleute“, schließt der Musikjournalist Marpurg. Wie zutreffend gerade für jenes Künstlerleben, das am 27. Januar 1756 in Salburg begann und in Wien „eine gute Lebensart nicht erlangte“.

In der Gesetzmäßigkeit der Andenken-Sammlung und Überlieferung liegt jedoch, daß ganz vorwiegend nur das „Artige“ zum Leben unserer großen Meister gezeigt werden kann. Das Abartige muß aus dem Raritätenkabinett hinzugesellt werden. So präsentiert die von Marie- Louise Gräfin von Plessen konzipierte Wiener Ausstellung, neben einer Fülle von Autographen und Erstdrucken, Stichen und Porträts, auch das Wissenswerte aus dem Kontext: Reise-Utensilien des späten 18. Jahrhunderts, gar eine Sänfte für die gehbehinderten höchsten Herrschaften; Aufzeichnung der Reiserouten Mozarts, Programmzettel und Libretti. Überhaupt dokumentieren Druckpresse und Aufklärungsliteratur das angebrochene Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus.

Im Gedränge der engen Gänge läßt sich nicht immer konzentriert hinsehen, zumal wir beständig unterm Eindruck der „Hörausstellung“ stehen und gehen. Wie das zu Sehende versteht sich, was gehört werden muß, als „Angebot“. Man kann es freilich nicht, wie irgendeine uninteressantere Glasvitrine umgehen. Immer bleibt die Musik-Melange als „Anregung“, als Stimulans. Koffeinhaltig sozusagen. Wir halten durch in der Masse der Objekte, die mit Mozart ein ganzes Zeitalter beschwören: physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis, Hinweise auf die fundamentale Reorganisation des Gesundheitswesens, ein Zuber des Magnetiseurs Franz Anton Mesmer für Gruppentherapien, Schnittmuster und Stadtbilder aus der Vogelperspektive, Apparate des „Belgiers Robertson“, Hanswürste und andere Porzellanfiguren, Kulissen für den Guckkasten; die „Peinliche Gerichtsordnung“ der Maria Theresia und — gegen deren mittelaterliche Grausamkeit gerichtet — ein Traktat wider die Folter von Joseph von Sonnenfels; Rock und Schwert des letzten Scharfrichters von Wien; Tabak- Klistier und Geburtshilfe-Besteck. Und noch tausend andere schöbne Sachen.

Das Geburtshilfe-Besteck der Musik Mozarts darf nicht fehlen: das pädagogische Werk des Vaters Leopold und die Fux'sche Musiklehre. Ein Billard-Tisch des leidenschaftlichen Spielers Mozart nimmt einen zentralen Platz ein. Porträts wichtiger Zeitgenossen. Hinweise auf Mozarts zahlungskräftige „Scolaren“. Und immer wieder die Ankündigungen der Uraufführungen von Mozart-Opern, nach deren Rhythmus die Schau gegliedert ist. Der Ehe- Kontrakt mit Frau Konstanze. Logen-Accessoires. Ein Besoldungsverzeichnis der Hofmusiker.

Und dann die Begräbnisordnung für Niederösterreich mit der Vorschrift, den Josephinistischen Sparsarg — mehrfach verwendbar — einzusetzen: Da bei Begrabung, so Artikel 4 des Hofdekrets vom 23. 8. 1784, nurmehr die Verwesung bestmöglich zu fördern sei, solle die Verwendung von herkömmlichen Särgen unterbleiben. Es müssen „alle Leichen in einen leinenen Sack ganz blos, ohne Kleidungstücke eingenähet“ und dann mit dem Sparsarg auf dem Gottesacker vor den Toren der Stadt verklappt werden. Durch diese Dokumente wird bestätigt, daß Mozart, aller Wahrscheinlickeit nach eines natürlichen Todes gestorben, seine letzte Reise ganz und gar innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Bahnen antrat. Der rührseligen Literatur wird eine weitere Projektionsfläche entzogen.

Schließlich sind in der Ausstellung Reliquien aus der Frühgeschichte des Nachruhms angehäuft. Und Noten. „Gewaltig viele Noten, lieber Mozart.“ Das Präsentationskonzept des Wiener Historischen Museums entspricht dem der Berliner Bismarck-Ausstellung, die ja ebenfalls maßgeblich auf Marie- Louise von Plessen zurückgeht. Freilich ist der Weg der Wahrnehmung in Wien strenger vorgeschrieben: Der Ausstellungsbesuch wird zur „Lektüre“. Die läßt sich im 620 Seiten dicken Katalog noch erheblich intensivieren — denn nach einigen Stunden versagen selbst belastungsfähigen Ausstellungsgängern die Knie.

Das Unternehmen repräsentiert einen neuen Ausstellungstyp: Er bricht mit der Heroisierung und zielt auf die Versachlichung des Bildes einer geschichtlichen Gestalt. Was da in produktiver Widersprüchlichkeit angehäuft wurde, entwickelt den Betrachtern ein Panorama, in dem sich die Lebensleistung des „Genies“ als erstaunlich und doch als fast notwendig erhebt. Es ist säkularisierter Genie-Kult: Erkenntnisquelle und Seelenwärme für die skeptischen und bedürftigen Menschen am Ausgang des 20. Jahrhunderts.

Zaubertöne. Eine Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien im Künstlerhaus am Karlsplatz. Bis 15. September 1991. Katalog: 620 Seiten, 480 Schilling.