Allein Berlin hat noch offene Türen

Heute entscheiden die Bundesländer über das „Einreisekontingent“ für sowjetische Juden und Jüdinnen  ■ Von Anita Kugler

Berlin (taz) — Donnerstag mittag in der Beratungsstelle für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion, in der Otto-Grotewohl-Straße Berlin- Mitte. Etwa hundert Männer, Frauen, Kinder sitzen in den engen Fluren, drängen sich vor dem Zimmer 4134, warten geduldig Stunde um Stunde, bis ihnen die Tür geöffnet wird, das Einlaßtor nach Deutschland.

Sergej M. ist die Anstrengung der vergangenen Tage anzusehen. Zwei Tage dauerte die Zugfahrt von Moskau nach Berlin, die vergangene Nacht haben er und seine Familie im Obdachlosenasyl des Bahnhofs Zoo übernachtet. Er möchte in Deutschland bleiben, Arbeit finden, die Tochter soll studieren. Lutz Basse, Mitarbeiter der Beratungsstelle aber dämpft die Erwartungen. „Wissen Sie“, fragt er, „daß in Deutschland zwei Millionen Wohnungen fehlen, und es bald vier Millionen Arbeitslose geben wird?“

Sergej M. weiß es. Er ist überhaupt gut informiert. Von Freunden hat er erfahren, daß Deutschland ab 1. Januar aus der Sowjetunion kommende Juden nicht mehr aufnehmen möchte, es sei denn, er wäre einer der „ausgewählten Kontigentflüchtlinge“, über deren Anzahl heute die Konferenz der Ministerpräsidenten der Bundesländer entscheidet.

Er hat auch gehört, daß bereits seit dem 3. Oktober die neuen Bundesländer die sowjetischen Emigranten nicht mehr aufnehmen möchten, es sei denn, sie werden auf die Quote für Asylbewerber und Aussiedler angerechnet. Und er weiß auch, daß das einzige Schlupfloch nach Deutschland das Land Berlin ist, und auch dies nur bis zum 31. Dezember. Nur in Berlin und eingeschränkt auf den Ostteil der Stadt hat er durch einen Beschluß der Stadtverordnetenversammlung das Recht auf einen ständigen Wohnsitz, Arbeit und Wohnung und obendrein gibt es in Berlin eine große jüdische Gemeinde. Deswegen ist er gekommen, überstürzt, nur mit einem Pappkoffer in der Hand, denn die von den Ministerpräsidenten ab Januar aufgebauten Hürden wird er nicht nehmen können. Weder Sergej M. noch seine Familie sprechen ein Wort Deutsch, und seine berufliche Qualifikation als „Chirurg“ wird nicht akzeptiert.

So eilig und kurz vor Torschluß sind die meisten Neueinwanderer nach Berlin gereist. Seit vergangenem Montag sind es täglich um die hundert. Matthias Jahr, Leiter der Beratungsstelle, schätzt, daß bis Neujahr noch rund 3.500 EmigrantInnen kommen werden. Niemand weiß, wie und wo sie untergebracht werden können. Am schlimmsten war es vorigen Dienstag. 110 Emigranten baten um eine Unterkunft, und nur von neun freien Schlafplätzen wußte die Beratungsstelle. Als einzig mögliches Notquartier blieben die Mannschaftsunterkünfte in einer ehemaligen NVA-Kaserne.

Diese Probleme müßte es gar nicht geben, sagt Lutz Basse. Auf dem Gebiet der ostdeutschen Bundesländer existieren seit diesem Sommer 24 Aufnahmeheime für jüdische Einwanderer mit einer Gesamtkapazität von 2.330 Plätzen. Aber diese werden seit dem 3. Oktober für jüdische EmigrantInnen nicht mehr freigegeben, weil das künftige Aufnahmeverfahren noch nicht feststeht. „Die Politiker stecken den Kopf in den Sand“, sagen die Mitarbeiter der Beratungsstelle. Es wäre eine Illusion anzunehmen, daß auch nach einer „Kontingentierung“ die Ausreisewelle abebben würde.

„Dann werden sie eben illegal kommen, als Touristen“, sagt Basse, und den Politiker möchte er sehen, der es wagen würde, jüdische Menschen aus Deutschland abzuschieben. Die einzige Chance, daß nicht kriminelle Schlepperorganisationen das Einreisegeschäft übernehmen, wäre ein geregelter Zuzug. Eine zentrale Funktion könnte hier die Beratungsstelle übernehmen. Aber die Chancen dafür stehen schlecht. Den Mitarbeitern wurde zum 31.12. gekündigt, und die Räume im ehemaligen Goebbelschen Propagandaministerium in der Otto-Grotewohl- Straße beanspruchen Dienststellen des Bundesumweltministeriums.