ESSAYS
: Die neue Weltunordnung der Geschlechter

Die momentane Um- und Neuordnung des internationalen Kräfteverhältnisses wird sich einschneidend auf das Geschlechterverhältnis auswirken. Höchste Zeit für die hiesigen Frauenbewegungen, über ihren westeuropäischen Gartenzaun nach Osten und Süden zu blicken. Gerade aus Ostasien kommen heute wichtige Anstöße. Sie reichen von einer durch Frauen getragenen Umweltbewegung in Japan und Südkorea bis zum Phänomen des Aufstiegs von Corazon Aquino oder der japanischen Sozialistin Doi Takako.  ■ VON ILSE LENZ

Frauen in der Politik wurden herkömmlich mit Störung oder Unordnung gleichgesetzt. Ob „Unkraut im Parlament“ oder „emotionale Weiber“ – sie verkörperten das andere, Irrationale, Wildwachsende. Nach dem internationalen frauenpolitischen Aufbruch der letzten zwanzig Jahre dringen nun aber Politikerinnen in Schaltstellen der herrschenden Ordnung vor, und allerorten versuchen Frauenbewegungen politisch Einfluß zu nehmen. Obwohl Frauen weiterhin marginalisiert sind, haben sie in der Politik also erstmals die Möglichkeit, neben Unordnung auch ihre eigenen Grundlinien anderer, feministischer Ordnungen einzubringen.

Dieser Prozeß geht einher mit der Auflösung bisheriger globaler Ordnungskonzepte. Über Nacht ist selbst die Rede von der Ersten, Zweiten, Dritten Welt veraltet. Was aber bedeutet dies für die Geschlechterpolitik?

Die Tür zur Welt geht auf. Ein Jahr nach der deutschen Vereinigung haben die Frauenbewegungen hier die Wahl: differenziertes internationales Denken und Handeln oder Rückzug in einen innerdeutschen Provinzialismus. Der Preis für letzteres wäre eine dauernde Verdrängung der Erfahrung, daß unsere Lage sehr stark von internationalen Veränderungen bestimmt wird. Gerade die deutsche Vereinigung beruhte auf ungeheuren internationalen Bewegungen wie dem Zerfall der Blöcke, dem Zusammenbruch der irreal sozialistischen Länder. Sie bringt eine verstärkte internationale Rolle der Bundesrepublik und eine teilweise Öffnung der Grenzen nach Osteuropa mit sich. Um nur zwei Anzeichen zu nennen: den geplanten Einsatz bundesdeutscher Soldaten in Krisengebieten wie dem Nahen Osten und die Zunahme der Zahl von ArbeitsmigrantInnen aus Osteuropa in ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Nicht nur Putzfrauen für die Mittelschicht kommen zunehmend „aus dem Osten“, auch die Heiratshändler werben heute zunehmend mit Polinnen.

Wir haben noch keine Analyse, was diese internationalen Bewegungen und die Öffnung der Grenzen für die Geschlechterpolitik bedeuten. Die bisherigen Denkmuster der Abgrenzung eines Teils der deutschen Frauenbewegung nach außen greifen nicht mehr: Bisher wurden internationale Fragen häufig mit Dritte Welt übersetzt, und die wurde rasch mit Unterentwicklung, Armut, besonderer Männergewalt gleichgesetzt. Deutsche Frauen konnten sich aus mehr oder minder wohlmeinender Schwesterlichkeit damit beschäftigen, aber ihre eigene Emanzipation auf dem Arbeitsmarkt oder mit Hilfe neuer Lebensformen schien dadurch nicht tangiert. (Selbstverständlich haben starke Strömungen der deutschen Frauenbewegung, vor allem aus der internationalen Solidaritätsbewegung und der Migrantinnenbewegung sich anders verhalten und intensiv nach praktischen und theoretischen Gemeinsamkeiten mit Frauen in anderen Ländern gesucht.)

Die unbewußte Stigmatisierung der unterentwickelten, armen „Dritte-Welt-Frauen“ führte zugleich zu ihrer Ausgrenzung aus den hiesigen Befreiungskonzepten. Teile der Frauenbewegung konnten so eigene reale Fortschritte verfolgen, ohne zugleich deren Grenzen wahrzunehmen, die mit den Grenzen des reicheren Westeuropas übereinstimmen. Diese Grenzen wurden unerwartet nach Osten geöffnet und werden auch von den deutschnationalsten Stimmenfängern mitten im europäischen Haus nicht mehr geschlossen werden können. Wir stehen relativ hilflos vor dem, was uns jetzt vor der Haustür erwartet: In vielen osteuropäischen Ländern wird mit dem Zusammenbruch des irrealen Sozialismus die Abtreibungsgesetzgebung verschärft, anstelle bisheriger formaler Frauenförderungen und –quotierungen tritt das Faustrecht zwischen den Geschlechtern: auf einem Arbeitsmarkt, auf dem die Entscheidungspositionen überwiegend von Männern besetzt sind.

Nun ist das einfache Klischee der drei Welten zusammengebrochen. Die Zweite Welt erweist sich als Pulverfaß verschiedener Nationalitäten, in denen nach einer Pseudoemanzipation der Frauen in die Arbeit patriarchalisch-konservative Werte wiederaufleben. Die Dritte Welt, die Vielzahl der ehemals kolonialisierten und bis heute abhängigen Länder, hat sich so stark differenziert, daß der Ausdruck eher in ein Lexikon der Zeitgeschichte gehört. In den neu industrialisierten Ländern Ostasiens etwa bilden Frauen eine Kerngruppe der industriellen Lohnarbeiterschaft und schlagen sich mit den Problemen von Kinderversorgung und Umweltverschmutzung in Industriegesellschaften ohne soziales Netz und wirksame demokratische Kontrolle herum. In vielen stagnierenden afrikanischen Volkswirtschaften dagegen tragen Frauen die hohen Arbeitslasten, die der Eigenanbau zur Versorgung der Kinder und Alten bei zunehmend ökologischen Verschlechterungen und wachsender Verschuldung mit sich bringt. Das heißt, es gibt heute keine „einheitliche Dritte Welt der Frauen“ mehr, wenn es sie je gab, die europäische Projektionen von den armen, unterdrückten Frauen insgesamt einlösen könnte oder wollte. Erforderlich ist ein Umdenken von klischeehaften Ersten, Zweiten, Dritten Welten zu einem regionalen und lokalen Verständnis der Lage der Frauen und der Geschlechterpolitik. Doch gilt das bewährte Wort: „Think globally, act locally.“ Ich möchte an einen schönen Gedanken aus dem 19. Jahrhundert erinnern, der vor allem von der Arbeiterbewegung entwickelt wurde: Soziale Bewegungen können im Alltag, in den Gesetzen, in Straßen und Häusern ein bestimmtes zivilisatorisches Niveau erreichen, das ihren weiteren Befreiungskampf abstützt. Aber dieses Niveau muß sich horizontal ausweiten, muß auswuchern und auf anderem Boden andere, angepaßte Früchte tragen. Erst wenn dieses zivilisatorische Niveau zum gemeinsamen Ziel internationaler sozialer Bewegungen wird, ist es auch in einem Land vital; sonst wächst es auf eng eingezäunter, unfruchtbarer Erde. Dies gilt auch für die Frauenbewegung: Schwesterlichkeit in diesem Sinne nützt uns selbst, denn nur durch eine Ausweitung der Selbstbestimmung von Frauen über die Grenzen hinweg können wir sie in unserer Umwelt erhalten.

„Look west, look east.“ Ein Element der neuen Weltunordnung ist die Verlagerung des wirtschaftlichen und politischen Gravitationszentrums nach dem pazifischen Raum, insbesondere nach Japan, Ost- und Südostasien. Sie beruht auch auf einer erfolgreichen patriarchalischen Geschlechterpolitik, mit der Frauen als gut gebildete, aber gering entlohnte industrielle Arbeitskraft und als „Hausfrauen hinter der Exportfront“ genutzt wurden. Daß die Japanerinnen fast ausschließlich die Familienarbeit machen, Kinder und Alte versorgen, ermöglichte nicht nur, Sozialaufwendungen zu „privatisieren“, sondern auch Entfremdungserscheinungen westlicher Industriegesellschaften auszuweichen wie etwa dem Abschieben von Alten in Heime.

Diese geschlechtspolare Arbeitsteilung und die familiale Solidarität auf Kosten der Frauen trugen dazu bei, die sozialen Anomien des Industrialisierungsprozesses zu mildern. Die weltpolitischen Machtverschiebungen und ihre Konsequenzen für die Geschlechterpolitik sollten eigentlich auch die Frauenbewegungen hier interessieren. Statt dessen finden wir eine ungebrochene Exotisierung oder Bagatellisierung etwa des Themas „Frau in Japan“. Wenn überhaupt der Blick über den Zaun gewagt wird, dann gilt „look west“ in die USA oder Großbritannien mit ihren frauenpolitischen Fortschritten. „Look east“ bedeutet immer noch den Blick auf das Mandelaugenklischee der vermeintlich unterwürfigen Asiatin und nicht auf wesentliche Bestimmungsfaktoren unserer Frauenzukünfte.

Noch weniger werden Frauenpolitik und Frauenbewegungen in Ostasien wahrgenommen. Doch gibt es dort drei für uns wichtige Ansätze:

1.Der erste sind Frauengruppen und –bewegungen, die die klassischen feministischen Problemkreise so aufgreifen, wie sie sich in ihrer Gesellschaft stellen: berufliche Diskriminierung, Abhängigkeit und Gewalt in der Familie, Massenprostitution (Korea, Thailand) und Veränderung der patriarchalischen Kultur durch feministische Forschung, Kunst und andere Lebensweisen. Dazu kommt die Ökologiefrage: In Japan und Südkorea wird die Ökologiebewegung vor allem von Frauen getragen. In Japan gibt es eine zahlenmäßig kleine, aber breit gefächerte Frauenbewegung zwischen Berufsfragen, Friedensbewegung und Ökologie. Auch in den Hauptstädten der ostasiatischen NIL haben sich Arbeiterinnengruppen gebildet, wurden Frauenhäuser eröffnet und fordern Frauen demokratische Rechte und Beteiligung in der Politik. Hier werden Alternativen zu einer patriarchalischen Modernisierung, die sich auf die traditionelle asiatische Frau beruft, gesucht und teils gelebt. In den neu industrialisierten Ländern stoßen diese Gruppen auf die staatliche Kontrolle autoritärer Regime, so daß sie genötigt sind, Frauenfrage und Demokratiefrage zugleich zu denken. So demonstrierten Frauen in Südkorea Mitte der 80er Jahre gegen die Folter an politischen Häftlingen, aber auch gegen Vergewaltigungen im Gefängnis als sexuelle Folter.

Zugleich müssen sie sich mit einem teils aggressiven Nationalismus und fundamentalistischen islamischen oder christlichen Strömungen auseinandersetzen, die die zunehmende öffentliche Rolle der Frauen in Lohnarbeit und Politik ablehnen und dabei das Schlagwort von der „Verwestlichung“ wie eine Waffe schwingen. Die Frauengruppen suchen deswegen einheimische Wurzeln für ihren Feminismus und kritisieren die patriarchalen Ideologien sowohl von universalen Werten wie von Gleichheit und Freiheit als auch von verschütteten Möglichkeiten ihrer eigenen Kultur her. Diese kleinen Gruppen können über Massenmedien und –kommunikation eine Verbreitung ihrer Aktionen und Forderungen erreichen, und deswegen reicht ihr Einfluß weit über ihre Zahl hinaus.

2. Eine weitere wichtige Entwicklung sind spektakuläre Erfolge von Frauen bei der Besetzung politischer Spitzenpositionen oder bei Wahlen: der „Madonna-Effekt“. Die wichtigste Madonna in diesem Sinne ist Doi Takako, die Vorsitzende der Sozialistischen Partei Japans. Sie stützt sich nicht nur auf den Symbolwert „einer Frau ganz oben“, sondern betreibt eine Frauenpolitik, die sich an den vielen Frauennetzwerken im japanischen Alltag orientiert: den Müttern in den Elternbeiräten der Schulen, den Frauen in den Stadträten und den Nachbarinnen in Wohnsiedlungen. Ganz andere Verkörperungen dieses Madonna-Symbols sind Corazon Aquino oder etwa Violeta Chamorro. Diese symbolische Verstaatlichung von Frauenpolitik wäre in ihrer Ambivalenz genauer zu diskutieren. Das Symbol Madonna an der Spitze kann frauenunterdrückende undemokratische Maßnahmen etwa in der Bevölkerungs- oder Sozialpolitik legitimieren. Andererseits kann die Madonna von ihrem Podest aus auch eine frauenpolitische Umorientierung wichtiger Politikfelder von oben versuchen. Durch beides, Symbolwirkung und andere Politikansätze, kann sie bewirken, daß Frauenbewegungen vor Ort mehr Handlungsmöglichkeiten erhalten.

3.Die dritte wichtige Provokation der Frauenbewegungen aus Afrika, Asien und Lateinamerika, der laute Ruf nach Feminisierung der Entwicklung insgesamt, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Es gelte, die wirtschaftliche, soziale, kulturelle Entwicklung so zu verändern, daß Frauen und Männer und äußere Umwelt friedlich und demokratisch zusammenleben können. Es handelt sich hier nicht um ein Idyll, sondern um die Suche nach differenzierten Modellen, die das ermöglichen könnten. Wie eine Weltgesellschaft aussehen würde, die das möglich macht, und wie die Wege dahin aussehen können, dazu haben uns die Frauenbewegungen aus dem Süden zu einem Dialog eingeladen.

Ilse Lenz ist Professorin an der Universität Münster.