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ESSAYS1990 und die demokratische Linke

Die wirklichen Probleme der Gesellschaft – und nicht nur in Lateinamerika – sind mit den Feiern von 1989 und 1990 nicht verschwunden. Die Gefahr der Beweihräucherung des gegenwärtigen Kapitalismus liegt darin, daß er nicht mehr kritisiert wird. Deshalb ist eine demokratische Linke wichtiger denn je. Nur sie kann verhindern, daß die Jahrhundertübel perpetuiert werden. Die Lösung liegt in den zivilen und humanisierenden Elementen menschlichen Handelns.  ■ VON CARLOS FUENTES

Immer wenn jemand das Ende der Ideologien proklamiert, frage ich mich: welche könnte er haben? Derzeit gibt es eine deutliche Tendenz, im Namen des Sieges des Kapitalismus das Ende der Ideologien zu deklarieren. Der Kapitalismus wiederum habe über den Sozialismus triumphiert. Aber da beide Ideologien – Kapitalismus, Sozialismus – vielfältige Realitäten umfassen und vermischen und auch einen konstanten Austausch von Gedanken und Handlungen unterhalten, scheint mir die Proklamation von Siegen und Niederlagen in einer so dynamischen Welt, in der niemand ein letztes Wort hat, zumindest voreilig zu sein.

Die Dynamik gen Ende des Jahrhunderts ist in hohem Grade durch drei Faktoren bestimmt worden: Kommunikation ohne Zeitverlust, weltweite wirtschaftliche Integration und beschleunigter technologischer Fortschritt. Jeder dieser drei Bereiche wirft vielfältige Probleme auf. Das technologische Gefälle zwischen reichen und armen Ländern wird immer größer. Die Tendenz zur wirtschaftlichen Integration wird durch das Aufkommen alter nationalistischer Eigenheiten behindert. Findet die moderne politische Phantasie im Föderalismus das Scharnier, das eine globale Ökonomie mit lokalen Bedürfnissen verbindet?

„Kommunikation ohne Zeitverlust“ bedeutet Information, Kritik, Vergleich. Fast alle Barrieren, die die Nationen gegen den Informationsfluß isolieren, sind gefallen. Aber dieser Sachverhalt selbst verweist auf das Ungenügen der Information, der demokratischen Systeme oder der Kritik innerhalb jeder Nation. Die Tschechoslowaken und Polen konnten endlich ihre Zustände mit denen der Franzosen und Niederländer vergleichen, und was sie sahen, gefiel ihnen nicht. Wir Mexikaner vergleichen an Wahltagen die Geschwindigkeit, mit der die Ergebnisse bekanntgegeben werden, nicht nur mit England oder Deutschland, sondern auch mit Nicaragua und Brasilien und sind unzufrieden, daß wir in unserem Lande statt Computern Rauchsignale verwenden.

Aber Kommunikation wird noch problematischer, wenn es um die Kritik der Verhältnisse in jedem Land und um den Kontakt zwischen Menschen verschiedener Rassen und Kulturen geht, wie bei den Personen aus Rushdies „Satanischen Versen“, die über London aus einem Jet gefallen sind und keine Zeit mehr hatten, die Masken auszuwechseln, die sie beim Einstieg in Bombay trugen. Ströme von Informationen, Kritik, Kapital und vor allem von Menschen – das ist die dynamische Realität unserer Zeit; sie führt zu neuen Problemstellungen, die sich weder Adam Smith noch Karl Marx hätten vorstellen können, und erlaubt uns, über die Polemik um das Ende des Sozialismus und den Triumph des Kapitalismus mit einer Dankesmesse hinwegzugehen. „Dem toten Mauren ein kräftiger Lanzenstoß.“ Hören wir auf, die Kadaver des 19. Jahrhunderts zu geißeln, um uns den Realitäten des 21. Jahrhunderts zuzuwenden.

Wir sehen uns einem dynamischen Kapitalismus gegenüber, der in der Lage war, sich permanent selbst zu kritisieren. Wir sehen uns einem stagnierenden Sozialismus gegenüber, dem diese Fähigkeit zur Selbstkritik abging. Der heutige Kapitalismus wäre unvorstellbar ohne die Politik und intellektuelle Kritik eines Franklin D. Roosevelt, John Maynard Keynes oder John Kenneth Galbraith. Der sowjetische Sozialismus versteinerte, weil er diese Kritik unterdrückte. Demgegenüber ermöglichte es die sozialistische Kritik dem Kapitalismus, sich zu „sozialisieren“. In der entwickelten Welt gibt es keinen reinen und harten Kapitalismus. In Westeuropa und vor allem in Japan macht der Staat von seinem Recht Gebrauch, in die Wirtschaft einzugreifen, permanent regulierend, bremsend und das Privatunternehmen „sozialisierend“. Dort, wo der Kapitalismus sich nicht mehr selbst kritisierte – im England Thatchers und in den USA Reagans – sind die Kosten hoch gewesen: Defizite, soziale Ungleichgewichte, Niedergang des Bildungssystems und schließlich Rückgang der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ...

Die Gefahr der gegenwärtigen Beweihräucherung des Kapitalismus liegt darin, daß er nicht mehr kritisiert wird, Fandangos am Grab von Stalin tanzt und in seine alten, unkontrollierbaren, üblen Tricks zurückfällt. Diese Gefahr betrifft die USA, Westeuropa und Lateinamerika. Die Herrschaft einer einzigen Ideologie, ohne Konkurrenz und Kritik, bedeutet die heimtückischste und unbarmherzigste aller Diktaturen. Eine Diktatur, in der, wie Joseph Brodsky warnt, allein das Geld die Welt zusammenhält und sich die Völker allein durch ihre Wechselkurse voneinander unterscheiden.

Die wirklichen Probleme der Gesellschaft sind mit den Feiern von 1989 und 1990 nicht verschwunden. Was da auch gefeiert worden sein mag, verdeckt kaum, was heute und in Zukunft kritisiert, als Problem aufgedeckt und durch die Vergesellschaftung des politischen Lebens gelöst werden muß. Mit anderen Worten: Das Ende des Stalinismus östlich der Elbe bedeutet nicht das Ende der Ungerechtigkeit westlich der Elbe oder nördlich und südlich des Rio Bravo.

Die USA, so eifrig auf der Suche nach äußeren Feinden, die ihnen als manichäischer Leitfaden ihrer Geschichte dienen, müssen sich ihren inneren Feinden zuwenden. Sie heißen Rechtlosigkeit der Frau, ökologischer Ruin, schrittweiser Zusammenbruch des Bildungswesens, fehlende Gelder für die wissenschaftliche Forschung, Verfall der Brücken und Straßen, Niedergang des städtischen Lebens: Drogen und Gewalt; die Probleme der Alten; Hunderttausende, die ohne ein Dach über dem Kopf leben, und Millionen, die unterhalb der „Armutsgrenze“ leben, in einem Land, wo der Konsumüberfluß zur Schau getragen wird...

Die am höchsten verschuldete Nation der Welt mit ihrem doppelten, dem inneren und dem äußeren Defizit, kann nicht zulassen, daß sich dieser Niedergang fortsetzt, wenn sie nicht will, daß sich ihre internationale Position und ihr Lebensstandard drastisch verschlechtern.

Von der Art und Weise, wie die Nordamerikaner auf diese lange Liste von Probleme reagieren, wird es abhängen, ob man sie auf der Rechten oder auf der Linken ansiedelt. Ein Bürger, der für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs eintritt, ist links; wer ihn verbieten möchte, ist rechts. Die Beteiligung an der Kampagne des Senators Jesse Helms gegen die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks ist eine rechte politische Position, das Eintreten für ein öffentliches und kostenloses Gesundheitswesen in den USA eine linke.

Mit anderen Worten: Die Unterscheidung zwischen rechts und links löst sich in der Euphorie des triumphierenden Kapitalismus keineswegs auf, sondern wird immer schärfer. Wenn dies für die USA zutrifft, so gilt es auch für Europa, wo Ausländerhaß, religiöser Fanatismus, wiederauferstandene Nationalismen, der Rassismus auf dem jüdischen Friedhof von Carpentras genauso wie der von tschechoslowakischen Skinheads gegen vietnamesische Gastarbeiter oder neonazistische Mitläufer Le Pens zur „Totenfeier des Sozialismus“ äußerst gefährliche Aspekte beisteuern. Es bleibt abzuwarten, wie man in Mitteleuropa schon bald auf soziale Rückschritte in Beschäftigung, Bildung, Wohnung und sozialer Sicherheit reagieren wird.

Aber am notwendigsten ist die Unterscheidung zwischen links und rechts bei uns in Lateinamerika. Befreit vom Vorwurf des Ausverkaufs an die Sowjetunion und vom marxistischen Dogma steht die moderne Linke Lateinamerikas vor der Aufgabe, die soziale Gerechtigkeit in einem Kontinent zu fördern und zu verteidigen, in dem die absolute Zahl der Armen ununterbrochen wächst und die Einkommensverteilung kontinuierlich ungleicher wird; wo die Löhne sinken, Arbeitsplätze verschwinden, Lebensmittel knapp werden, die öffentlichen Dienstleistungen zerfallen, Verbrechen und Unsicherheit zunehmen, die Repressionskräfte sich im Namen der Anti-Drogen-Kampagne jeder Kontrolle entziehen, Unterernährung und Kindersterblichkeit wachsen ... Wenn sich die Linke diesen Problemen nicht stellt, wird es niemand tun.

Man sagt uns, daß Lateinamerika die Armut gewählt hat. Man verspricht uns, daß uns die uneingeschränkte Entwicklung des Privatunternehmens wie in Deutschland, Frankreich und den USA Prosperität bringen werde. Das bedeutet – ich wiederhole es – zu vergessen, daß die USA den steilsten Niedergang dieses Jahrhunderts nach acht Jahren eines „ungezügeltem Kapitalismus“ à la Reagan erfuhren. Und es wird übersehen, daß die Vitalität des europäischen Kapitalismus undenkbar wäre ohne die Vitalität eines aktiv in das Wirtschaftsleben eingreifenden Staates.

Vor allem aber wird die Erfahrung von 200 Jahren lateinamerikanischer Geschichte unterschätzt (ganz zu schweigen von den 300 vorangegangenen Jahren kolonialer Ausbeutung). Seit 1820 sind wir dem Willen nationaler und internationaler Privatunternehmen ausgeliefert, ohne daß unsere Probleme gelöst worden wären. Das einzige marxistisch-leninistische Regime unserer Geschichte, Kuba, hat sie ebenfalls nicht gelöst – obwohl es im Bildungs- und Gesundheitswesen Fortschritte erzielt hat wie es kein Regime vor ihm auch nur versucht hätte. Die wirklichen Fortschritte Lateinamerikas dagegen sind von Bewegungen der Linken erkämpft worden, ob revolutionär oder reformistisch, an der Macht oder in der Opposition, mit den Mitteln des Nationalstaats oder durch Aktionen der civil society.

Battle in Uruguay, die Volksfront in Chile, Cardenas in Mexiko, die Sandinisten in Nicaragua, aber auch Gewerkschaften, landwirtschaftliche Kooperativen, Nachbarschaftsgruppen, Intellektuelle, Frauen und Getötete – sehr viele Getötete – haben von der Linken aus und dank der Linken den Aufbau von infrastrukturellen Einrichtungen, Schulen und Krankenhäusern, Arbeitsschutz und soziale Sicherheit erreicht.

Heute sind die Aktionsprogramme der Linken in Lateinamerika wichtiger denn je. Man muß nicht mehr durch den Rückspiegel auf die Signale des Kreml achten. Den USA fehlt der antikommunistische Vorwand (obwohl sie andere suchen werden, in erster Linie die Drogen), um zu intervenieren. Die civil society agiert dynamisch und übertrifft immer wieder die traditionellen politischen Parteien, ja die Nationalstaaten. Die Gesellschaft organisiert und artikuliert sich von unten nach oben und von der Peripherie zum Zentrum. Dies ist eine beachtliche Neuheit für Länder, die traditionell von oben nach unten und vom Zentrum zur Peripherie strukturiert sind. Aber wenn diese neue Dynamik beibehalten werden soll, darf sie sich nicht vom ältesten Übel unserer nachkolonialen Wirtschaft anstecken lassen: vom Mythos des freien Marktes, auf dem sich der Reichtum an der Spitze akkumuliert und früher oder später, Tropfen für Tropfen, nach unten sickert. Dies ist nie geschehen, weder in Mexiko noch in Argentinien, weder in England noch in den USA; Reaganomics auf mexikanisch machen nur die Reichen reicher und die Armen ärmer. Die demokratische Lösung liegt weder im Marxismus noch in den Reaganomics, sondern in dem, was der Peruaner Julio Ortega „radikale Demokratie“ nennt, in der permanenten Bewegung zur Vergesellschaftung des öffentlichen Lebens, in der Stärkung der „zivilen, humanisierenden und solidarischen Elemente demokratischen Handelns“.

Ein solches Projekt braucht die Aktivitäten einer demokratischen Linken außerhalb der Staatsapparate und der Privatunternehmen, die beiden bei jedem Schritt wirtschaftlicher Entwicklung eine Politik sozialer Gerechtigkeit abverlangen und den Nationalstaat der Kontrolle und demokratischen Diskussion in Parteien, Presse und Parlamenten unterwerfen.

Nur die Linke kann verhindern, daß uns ein autoritärer, ausbeuterischer, keiner Kritik ausgesetzter Kapitalismus aufgezwungen wird, der unsere Jahrhundertübel perpetuiert. Und nur die Linke kann verhindern, daß ein populistischer, bürokratischer, verschwenderischer und unproduktiver Staat von oben die Initiative der civil society erstickt. Weder ungezügelter Kapitalismus noch populistische Bürokratie, sondern eine Linke, die sich immer mehr mit der civil society und ihrer Aktion von unten identifiziert, einschließlich ihrer wirklichen Infrastruktur, der – heute wissen wir es schließlich – kulturellen Kontinuität Iberoamerikas.

Ich glaube daher, daß die einzigartige Universalität der Linken zwar aus konkreten Handlungen in einem wirtschaftlich und politisch präzise bestimmten Umfeld hervorgeht, aber letztlich das größte Problem des kommenden Jahrhunderts umfaßt. Dies ist das Problem des anderen.

Das Ende des Kalten Krieges bedeutet, daß alle Männer und Frauen, nicht nur Sowjetbürger und Nordamerikaner, Kapitalisten oder Kommunisten, als Träger des Ziels der Menschheit hervortreten. Die Stadt des 21. Jahrhunderts verspricht eine Stadt der Begegnung mit dem anderen, der Frau, dem Kind, dem Mitglied einer anderen Rasse oder Zivilisation zu werden, die zwischen uns entsteht und uns so verändert, daß wir das Fremde annehmen und seine kulturelle Besonderheit akzeptieren.

Der wichtigste Akteur dieser neuen Universalität ist der Arbeitsemigrant, der in unsere Städte kommt und unsere Vorurteile herausfordert, uns dazu verpflichtet, die Wirklichkeit eines weltweiten Kulturbildungsprozesses zu sehen, der sich nicht nur auf Ideologie, sondern auf wirtschaftliche Realitäten gründet, sie aber in Richtung auf eine soziale Realität hin überschreitet, die Familien, Individuen, ganze Gemeinschaften und viele Nationen umfaßt. Und der sich vor allem als kulturelle Realität darstellt: Die Arbeitsmigration sucht ihren Ort im globalen Integrationsprozeß und wirft für uns die Frage auf, ob kulturelle Verschiedenheit mit sozialer Gerechtigkeit koexistieren kann.

Dies ist die Universalität, die uns vereinen kann: Die Geschichte ist nicht an ihr Ende gelangt, ihr Protagonist sind ich und der andere. Zwischen uns beiden können wir die Stadt des 21. Jahrhunderts aufbauen, eine Stadt mit vielen Völkern und Kulturen, die das wertvollste Produkt der Kommunikation ohne Zeitverlust, der wirtschaftlichen Integration und der kulturellen Vielfalt sein wird.

Carlos Fuentes lebt als Schriftsteller und Essayist in Mexiko.

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