Rückkehr zur Normalität

■ Argentiniens Präsident begnadigt die uniformierten Massenmörder

Nunca más“ — „Nie wieder“, hallte es vor fünf Jahren über Argentiniens Plätze und Straßen. „Nie wieder“, kommentierte knapp der damalige Präsident Raúl Alfonsin im Dezember 1985 die Verurteilung der Juntageneräle zu langjährigen, zum Teil lebenslänglichen Haftstrafen. Nie wieder sollten in Argentinien die Militärs in der Lage sein, zu putschen, zu foltern, zu morden oder Personen einfach verschwinden zu lassen. Für immer sollte die militärische Gewalt der zivilen untergeordnet werden. Zum erstenmal in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas waren uniformierte Putschisten in einem zivilen, öffentlichen Prozeß für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen und verurteilt worden. Rechtsstaatlichkeit hatte über die nackte Gewalt obsiegt. Eine Sensation. Ein Jahrhunderturteil. Ermöglicht hatte es die militärische Niederlage Argentiniens gegen Großbritannien im Krieg um die Malwinen — erzwungen hatten es allen voran die „Mütter der Plaza de Mayo“, die schon zu Zeiten der schärfsten Repression durch die Diktatoren jeden Donnerstag in aller Öffentlichkeit ihre „verschwundenen“ Töchter und Söhne zurückforderten.

Nie wieder? Die Begnadigung der Verantwortlichen der grausamsten Diktatur, die der Subkontinent in diesem Jahrhundert gekannt hat, belehrt uns eines Besseren. Kein öffentlicher Druck forderte einen Gnadenerlaß. Im Gegenteil: Die Entscheidung von Präsident Menem, die letzten acht noch inhaftierten Militärs, die für die systematische Ermordung der Opposition der 70er Jahre verantwortlich sind, auf freien Fuß zu setzen, ist im Land selbst alles andere als populär. Der Druck kam aus den Kasernen. Dort macht sich angesichts der bevorstehenden Kürzung des Militärbudgets und der Privatisierung von Rüstungsbetrieben Unmut breit. Den naheliegenden Verdacht, daß er sich bei der Meuterei einiger Offiziere im Dezember die Loyalität des Heeres mit dem Versprechen eines schon öfter erwogenen Gnadenerlasses erkauft hat, versuchte der Präsident mit der Androhung der Todesstrafe für die rebellierenden Soldaten zu entkräften. Leeres Geschwätz. Wie sollte man subalterne Offiziere, die gerade einmal 16 Stunden gemeutert haben und für den Tod von elf Menschen verantwortlich sind, vors Peloton stellen, wenn man nun Generäle, die in sieben Jahren an die 30.000 Menschen „verschwinden“ ließen, einfach laufen läßt?

Der Ex-Präsident Alfonsin, dem das historische Verdienst zukommt, die uniformierten Verbrecher der Justiz überstellt zu haben, sprach am Neujahrstag von einem der „traurigsten Tage Argentiniens“. Doch es ist bloß der Tag, an dem der Schlußpunkt unter ein Kapitel gesetzt wurde, dessen erste Seiten er selbst geschrieben hat. Unter dem Druck von drei militärischen Meutereien hatte Alfonsin bereits ein Jahr nach dem Jahrhunderturteil das „Schlußstrich-Gesetz“ verabschieden lassen, das keine weiteren Anklagen gegen Militärs wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur zuließ. Ein Jahr später folgte ein Gesetz, das 400 Offizieren, die direkt an Folter und Mord beteiligt waren, Befehlsnotstand zubilligte und sie faktisch amnestierte. All dies im Rahmen einer von oben dekretierten „nationalen Aussöhnung“, die die Militärs ruhigstellen und dem Land den Frieden bringen sollte. Doch jedes Nachgeben hat die Militärs zu weiteren Pressionen ermuntert. Auch das neueste Beruhigungsmittel, der Gnadenerlaß vom Jahresende, könnte sich als Appetitanreger herausstellen. Kaum freigelassen, überreichte Ex-General Jorge Videla, der 1976 den erfolgreichen Putsch gegen die gewählte Regierung Isabel Peróns angeführt hatte, noch am Silvestertag der Presse einen Brief an den Generalstab, in dem er über den präsidentialen Gnadenakt hinaus nun „volle Genugtuung“ für die Streitkräfte fordert, die mit ihrem Kampf gegen die „Subversion“ das Land vor einem „totalitären Regime“ gerettet hätten.

Nie wieder? Sicher steht den argentinischen Militärs heute der Sinn nicht nach Putsch. Doch geht mit der regierungsamtlich betriebenen Aussöhnung und Ehrenrettung der Militärs auch das implizite Eingeständnis einher, daß der Versuch, aus argentinischen Generälen „Bürger in Uniform“ zu machen, die der Demokratie verpflichtet sind, endgültig gescheitert ist. Wie fast überall in Lateinamerika haben sich die Militärs in Argentinien im Gefolge der Unabhängigkeitskriege eine politische Machtposition erobert, die keine bürgerliche Klasse je ernsthaft in Frage stellte. Die fünf Jahre, die Videla und weitere sieben Massenmörder im Gefängnis verbrachten, erscheinen heute bestenfalls als historischer Ausrutscher, der glücklichen Umständen geschuldet war. Es stellt sich wieder die Normalität ein, daß in Argentinien kein Politiker gegen die Militärs regieren kann. Es ist eine Normalität, die eben letztlich — wenn das Vaterland in Gefahr scheint, wenn Hungerrevolten drohen oder wenn es ganz einfach opportun ist — immer auch das „Jederzeit wieder“ miteinschließt. Thomas Schmid