Tschernobyl-Hilfsaktion
: Unbürokratisch und zügig bis ans Ziel

■ Nicht nur zur Weihnachtszeit — so lautete in den Tagen vor dem Fest das Motto des taz-Aufrufs, die Hilfsaktion für die Betroffenen des Reaktorunglücks von Tschernobyl zu unterstützen. Die Aktion läuft, die Hilfsgüter kommen an. Die taz war vor Ort.

AUS MINSK ANDRÉ BECK

German ist nachdenklich. Um Olja und ihn geht es nicht, mehr um Anton. Ihr dreijähriger Sohn leidet an einer Stoffwechselerkrankung und kann selbst von dem wenigen, was es in der Region um Minsk noch zu erschwinglichen Preisen zu kaufen gibt, nur die Hälfte essen. Und selbst diese Hälfte gibt es nicht immer. Es ist Weihnachten, Heiligabend in der Sowjetunion. In Deutschland wird jetzt ordentlich am heiligen Geflügel rumgekaut; nichts ist bekanntlich schwerer zu ertragen als eine Reihe von fetten Tagen. In Minsk und anderswo in der riesigen Sowjetunion sitzt derweil bei vielen Schmalhans mit am Tisch, an Braten ist da kaum zu denken.

Gottes Wege sind verschlungen, aber wer langsam fährt, kommt doch am weitesten. Unser Hilfstransport sollte, wenn auch auf fast ebensolchen Um-Wegen, die Opfer der Katastrophe von Tschernobyl erreichen. Zunächst stand uns eine dreitägige Tour durch sowjetische Kasernen und über diverse Militärflughäfen im Gebiet der ehemaligen DDR bevor, ehe es dann die etwa tausend Kilometer weiter nach Minsk und von dort noch einmal 200 Kilometer nach Mogiljow, ziemlich dicht ran an die „Zone“, weiterging.

Am 25. Dezember liefern wir die uns anvertrauten und aus Spendengeldern finanzierten rund 15 Tonnen Lebensmittel, Konserven, Babykost und Geschenke bei ihren Empfängern — Krankenhäuser, Einkommensschwache und bedürftige Familien mit mehreren Kindern — ab. Das unabhängige belorussische Komitee „Kinder von Tschernobyl“ hatte die Verteilung organisiert und dafür gebürgt, daß nichts in andere Kanäle, etwa auf den Schwarzmarkt gelangen und dort verramscht würde.

Ein Tropfen auf dem heißen Stein

Bereits beim Einladen auf dem Flugplatz im ostdeutschen Parchim beschleicht mich ein Gefühl der Ohnmacht, angesichts des Ausmaßes der eigentlich in der Sowjetunion benötigten Hilfe und dessen, was wir mit dieser Hilfssendung ausrichten können. Die Fracht verliert sich im riesigen Laderaum der zwar mit Verspätung, doch glücklich gelandeten Aeroflot-Maschine AN-22 — ein Tropfen auf den heißen Stein, der Transport wird höchstens lindern helfen. Bizarrer Aspekt am Rande: Die Babykost muß bis zum März — so will es das Verfallsdatum — aufgegessen sein.

Als nächstes fliegen wir Darmgarten an, um das Flugzeug wenigstens halbvoll zu bekommen; immerhin schluckt der Stauraum 60 bis 70 Tonnen, wie der Kapitän erklärt. Das Entladen in Minsk dagegen geht zügig voran, nachdem die Einreiseformalitäten geklärt sind. Alles muß seine Richtigkeit haben — nicht nur in Deutschland. Vorläufig sind wir Gäste der Armee und die verpflegt uns auch. Doch wie muß es erst im Lande aussehen, wenn schon die ansonsten gut versorgte Armee am Essen spart.

German und Olja — beide arbeiten im Komitee „Kinder von Tschernobyl“ mit — gewähren uns ihre Gastfreundschaft. Wir sind nicht die ersten Ausländer, die hier ankommen und übernachten. Pausenlos klingelt das Telefon, ein weiterer Konvoi muß empfangen, Dokumente geprüft, und Empfänger der Hilfssendungen gefunden oder verständigt werden. Nein, das geschieht alles auf Basis von Freiwilligkeit, was hier passiert. „Keiner verdient an dem, was er tut, wir machen das für die, die es wirklich dringend brauchen“, sagt German.

„Die Kinder haben Hautkrankheiten“

Ein Teil des vom Komitee zusammengestellten Hilfskonvois fährt noch am selben Abend nach Mogiljow, dem Bestimmungsort unserer Ladung. Der LKW ist ziemlich abgewrackt, jeden Moment könnte er stehenbleiben, denke ich. Eine eintönige Straße, der Laster rumpelt vier Stunden an einer tristen Landschaft vorüber, vielleicht liegt das am Wetter. Doch die Traurigkeit überfällt mich mit ganzer Wucht, als wir in der Klinik Nummer 1 eintreffen und eine Station für Tbc-Kranke Kinder und eine weitere für Hautkrankheiten zu sehen bekommen. Ganze acht Monate dauert hier für die kleinen Patienten mit Tuberkulose die Therapie. Doch womit? Die karg möblierte und überbelegte Station birgt kaum medizinisches Gerät, geschweige denn Spielzeug. Auf 40 Kranke kommt ein Arzt. In der Hautabteilung stürzt ein Junge auf mich zu: „Jetzt kommt ihr alle ins Gefängnis“, ruft er und zerrt an meiner Tasche, deutet auf die schwarze Tür des Buchhalters. Die Kinder haben Tücher um ihre nackten Köpfe gewickelt. Ich will wissen, ob der Haarausfall etwas mit der Radioaktivität zu tun hat. Das sind Hautkrankheiten, erklärt die Stationsschwester und zählt einige lateinische Namen auf. Stimmen gellen über den Flur, eine drückende Stimmung.

Was wird man in Deutschland denken?

Einer Krankenschwester ist das Fotografieren nicht recht. „Was werden die in Deutschland über uns denken. Lachen, oder was?“ In der Bewegung, wie sich die Frau abwendet, liegt Scham, es fehlt schließlich an allem. Das Neonlicht und das gewellte Linoleum auf den Fußböden verhalten sich zu den Dingen wie nichts. Etwa einen Kilometer entfernt qualmen Fabrikschlote eines Werkes für chemische Kunstfasern, erbaut von Hoechst und Uhde, der Umweltverschmutzer Nummer eins am Ort. „Auch radioaktive Strahlung gibt's hier, sie beträgt ein Curie“, informiert uns ein Vertreter vom Komitee.

In Minsk besuchen wir die hämatologische Abteilung der zentralen Kinderklinik. Alles ist relativ, so auch die Ausstattung dieser Klinik, die Dank der internationalen Hilfe etwas Mustergültiges für sowjetische Verhältnisse hat. Trotzdem ist alles sehr bescheiden. Zum Zeitpunkt unseres Besuches werden hier 70 an Leukämie erkrankte Kinder einer an die physischen und psychische Grenze der Belastbarkeit heranreichenden Chemotherapie ausgesetzt. Hierher kommen die schwersten Fälle. Die Zahl der Erkrankungen wächst, die Spätfolgen sind nicht abzusehen.