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Quotenstreit um Einwanderung sowjetischer JudenWie viele Juden nach Deutschland?

■ Tag für Tag kommen sowjetische Juden in Berlin an. Sie werden „geduldet“, eine rechtliche Regelung steht aus. Vor 1933 lebten etwa 600.000 Juden in Deutschland, heute 30.000. Die jüdischen Gemeinden haben Interesse an der verstärkten Einwanderung — Deutschland will die Aufnahme von Juden kontingentieren.

In den engen Fluren der Beratungsstelle für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion in Ost-Berlin drängten sich allein in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr Hunderte sowjetische Juden. Bis in die russischen Provinzen hinein hatte es sich herumgesprochen, daß Deutschland ab Januar die Grenzen für Juden dichtmachen will. Seit dem 1. Januar werden die strenggenommen nunmehr illegal eingereisten sowjetischen Juden nur noch wie Asylbewerber geduldet.

Die Frage, wie der Zustand rechtlich geregelt werden könnte, schieben die zuständigen Bundesländer seit Wochen vor sich her. Im Dezember beriet die Innenministerkonferenz und vertagte das Thema, um den Ministerpräsidenten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Wenn die Einwanderer als „Kontingentsflüchtlinge“ behandelt würden, müßte sich Bonn an den Kosten beteiligen. Das Tauziehen hinter den Kulissen hat dazu geführt, daß zunächst einmal nichts beschlossen wurde. Kurz vor Weihnachten berieten die Ministerpräsidenten und vertagten die Sache auf den 9. Januar. Für die Ministerpräsidentenkonferenz in Bonn am 9. Januar steht das Thema allerdings bisher nicht auf der Tagesordnung, in den Staatskanzleien wurde auch bisher kein Entscheid vorbereitet. Es soll am 9. 1. um die Erhöhung des Finanzbeitrages der Länder zum Topf „Deutsche Einheit“ gehen, und dieses Thema, so ein mit der Konferenzvorbetreitung befaßte Beamter, läßt gewöhnlich keine Zeit für andere Fragen.

In den Medien sind die Ministerpräsidenten dafür um so mehr am Ball. Während der Bundesinnenminister zunächst von 1.000 jährlich aufzunehmenden Juden ausging, brachte der nordrhein-westfälische Innenminister Schnoor die Zahl 10.000 ins Spiel. Sein Land hat sich schon zur Aufnahme von 500 jüdischen Flüchtlingen bereiterklärt. Gar nicht einverstanden mit der Einreise ist dagegen die israelische Botschaft in Bonn. Alle mit der Frage befaßten Stellen kennen die Ansicht des Staates Israel, so der Diplomat: „Juden gehören nach Israel.“ Allein 1990 seien 200.000 Juden nach Israel eingewandert, 1991 werden doppelt soviele erwartet — eines der besten Dinge, die uns passieren konnten.“

Auch deshalb scheint die Einwanderungsfrage eine „Chefsache“ zu sein. Mit der Kontingentierung ist eine Verteilung auf die Bundesländer verbunden — insbesondere die „neuen deutschen Länder“ haben bisher keine jüdischen Flüchtlinge übernommen und wenig Engagement gezeigt. Eine zahlenmäßige Begrenzung der Einwanderung ist über die Kontingentierung aber nur zu erreichen, wenn die sowjetischen Behörden mitspielen und bei der Erstellung der Ausreisevisa diese Zahlen akzeptieren. Wenn sowjetische Juden aber einfach nach Deutschland fliehen, darin scheinen sich die Ländervertreter einig, wird man sie nicht abschieben können.

Der Bremer Landeschef Klaus Wedemeier hat in seiner Neujahrsansprache vom „beängstigenden Anwachsen des Antisemitismus“ vor allem in der Sowjetunion gesprochen und die grundsätzlichen Bedenken gegen eine zahlenmäßige Beschränkung vorgetragen: „Gerade im Angesicht der glücklichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten haben wir die moralische Pflicht, keine Juden abzuweisen, die zu uns kommen wollen.“ Auch Schnoor hat Bedenken bei Obergrenzen: Am liebsten, sagte er, „würde er Zahlen vermeiden“, aber „die Länder müssen sich auf die Neuzuwanderung vorbereiten können“.

Für Wedemeier ist das nicht nur ein Akt der moralischen Verpflichtung: „Vor 1933 lebten im Deutschen Reich 600.000 Juden. Durch ihre Vertreibung und Ermordung ist Deutschland ärmer geworden. Heute erhalten wir die Möglichkeit, neues jüdisches Leben in Deutschland zur Entfaltung kommen zu lassen. Wir dürfen diese Chance nicht vergeben.“ In der Tat hat die Berliner Beratungsstelle festgestellt, daß der Anteil kultivierter, gebildeter und vermögender Menschen an den sowjetischen Auswanderern besonders hoch ist. „Wir haben den Eindruck, daß seit September oder Oktober die ganze Creme jüdischer Intelligenz aus der Sowjetunion hierher auswandert“, meint Matthias Jahr, Leiter der zentralen Beratungsstelle.

Bis zum 31. 12. 1990 war Berlin das einzige legale Schlupfloch für den Weg sowjetischer Juden nach Deutschland, weil die rot-grüne Koalition den Ministerratsbeschluß der DDR übernommen hatte, allen jüdischen Emigranten einen ständigen Wohnsitz zu garantieren. Voraussetzung war, daß sie in Ost-Berlin gemeldet würden. Nur hier war bis zum 31. Dezember die Zuwanderung nicht durch Quoten, Auflagen und bürkratische Barrieren begrenzt. Und deswegen kamen sie, überstürzt, oft nur mit einem Pappkoffer in der Hand.

„Es herrscht eine Art Torschlußpanik unter den sowjetischen Juden“

Rund 800 jüdische Zuwanderer sind nach Angaben der Dolmetscherin in der Beratungsstelle, Helga Schmidt, zwischen Weihnachten und Neujahr gekommen, soviel wie früher in zwei Monaten. „Der Höhepunkt war der 27. und 28. Dezember, an diesen beiden Tagen haben wir für rund 200 sowjetische Juden Unterbringungsmöglichkeiten gesucht. Es herrschte eine Art Torschlußpanik.“ Weil die Aufnahmeheime in Ost-Berlin, vor allem die ehemlige NVA-Kaserne in Hessenwinkel, mit über 500 Menschen überfüllt war, wurde ein Großteil der Hilfesuchenden auf freie Wohnheime in West-Berlin verteilt. Seit dem 1. Janaur ist der Berliner Sozialsenat auch formell zuständig.

Laut Rita Hermanns, Pressesprecherin des Berliner Sozialressorts, ist durch die Übernahme des Beratungsbüros die Unterbringung der sowjetischen Juden momentan kein Problem. In ganz Berlin seien in den letzten Wochen rund 1.600 Juden aus der Sowjetunion untergebracht worden und die Aufnahmekapazitäten durch die freien Heime in West-Berlin nicht erschöpft. Viel mehr Sorgen als die Vermittlung von provisorischen Unterkünften bereitet der Sozialbehörde die fehlende Perspektive für die jüdischen Emigranten. Seit dem 1. Januar werden die sowjetischen Juden in Berlin unter Rückgriff auf eine Anweisung des früheren CDU- Senats als „geduldete Ausländer“ behandelt. Sie sind im Vergleich zu Asylbewerbern privilegiert, denn ein langwieriges Aufnahmeverfahren brauchen sie nicht auf sich zu nehmen. Sie haben Anspruch auf Sozialhilfe und eine uneingeschränkte Arbeitserlaubnis. In der Praxis sehen diese Privilegien allerdings grau aus, denn geeignete Arbeitsplätze gibt es nicht und eigene Wohnungen noch viel weniger. Rita Hermanns fordert daher eine rasche bundeseinheitliche Aufnahmeregelung, um die Einwanderer besser auf das Bundesgebiet zu verteilen und die Integration zu erleichtern. A.K./K.W.

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