Wirklichkeit und Wirklichkeit

■ Hermann Bachmann und David Wojnarowicz

Gegenwärtig gibt es zwei Arten Sinnbilder in der Stadt zu sehen. Das eine hängt als Tafelbild in der Galerie Springer, das andere klebt als Seriographie an den Werbewänden verschiedener U-Bahn-Stationen. Das eine ist von dem Berliner Maler Hermann Bachmann (geb. 1924), das andere von dem New Yorker Fotokünstler David Wojnarowicz (geb. 1954).

Die Qualität der Bilder Bachmanns bestand seit je darin, auf der Kippe zwischen Abstraktion und Figuration einen Schwebezustand zu suggerieren; Bewegung in stillgestellter Zeit. Die Bilder tragen einen Konflikt und sind eindeutig doppelbestimmt. Gegenläufige Bedeutungen dynamisieren den Blick und machen eine genaue Bestimmung dessen, was zu sehen ist, unentscheidbar. Es sind im wahren Sinne Bilder: sie müssen angeschaut und können auch nicht ersatzweise beschrieben werden.

Die Variationen von Bachmanns »Zwischenzeit« (1989) sind demgegenübner einfacher, weil reduzierter, aber auch komplexer, weil komprimierter. »Zwischenzeit« läuft über eine Metapher. Die Kreisbewegung entspricht dem Leben, im Räderwerk der Mensch fremdbestimmt — egal ob europid oder negrid. Bachmann illustriert eine überzeitlich Geltung beanspruchende Lebensweisheit, die sich auf den Mythos vom Lebens als Zyklus, Kreisbewegung, Rad beruft. Das ist immer irgendwie richtig und stimmt nie. Und daß die Lebensbewegung einem Kreis gleicht, ist ja eine recht dürre Botschaft.

Aber Bachmann kann es sich in einem Alter, wo Maler ihr Lebenswerk zu einer Summe zusammenziehen und in Jahrhunderten denken, erlauben, diese weltferne Synthese ohne zeitgeschichtliche Präzision zu fassen. Man muß diese Weltsicht sowenig teilen, um die Malweise zu schätzen, wie man nicht an Zeus glauben muß, um die Antigone immer wieder zu lesen, weil es da immer noch Stellen gibt, die nicht aufgehen. Dennoch bleibt »Zwischenzeit« als Tafelbild ein Objekt »genießender Betrachtun«, ein marktgängiges Medium, zum Schauen gemacht, zum Besitzen bestellt: eine Warenform. Darüber muß hinwegsehen, wer das Bild als Bild erkennen will. Der Maler weiß, daß die BetrachterInnen das wissen, und setzt sein Erfindungsreichtum und Können ein, um das Vermögen der Malerei zu aktivieren, das die Sehbedingungen vergessen macht und eine unauflösbare Doppelsinnigkeit im Bildraum wiederfinden läßt.

Jeder, der Bachmanns Bild sieht, weiß sofort: aha, Kunst — und ist bereit sich auf eine entsprechene Sehweise einzustellen. Das ist bei Wojnarowicz Plakat anders. Es hängt dort, wo niemand Kunst erwartet: an der Werbewand in der U-Bahn. Und es ist doch so gemacht, daß es von der Umgebung absticht, ein Blickfang. Die Kunst besteht darin, nicht als Kunst erkannt zu werden, um nicht von vorn herein entschärft zu werden durch den gewissen Spielraum, den auch die Borniertesten der Kunst einräumen. Denn Wojnarowicz zielt genau dorthin, wo Argumente und Kritik wirkungslos sind: in die unmerklich gewachsene Folie der Werturteile, die Ressentiments.

Er ködert den Blick mit einem freundlich blickenden Jungen und setzt ihm zwei Textblöcke zur Seite. Es ist eine Litanei in Aussagesätzen — so naturalistisch wie exakt — die Fakten, die das sexuelle Erwachen eines Homosexuellen brutalisieren: »Eines Tages wird dieser Junge größer werden. Eines Tages wird dieser Junge an einen Punkt kommen, an dem er die Teilung spürt. Eines Tages (...) Gesetze (...) Gefahren (...) Schweigen (...) Angst (...) Fäuste (...) Messer (...) Religion (...) Enthauptung (...) Ärzte (...) Virus (...) Psychlogen (...) Bürgerrechte (...) Freiheit (...) Verlangen (...) Elektroschocks (...) Alles dies wird sich in einem oder in zwei Jahren ereignen, wenn er entdeckt, daß er das Verlangen hat, seinen nackten Körper auf den nackten Körper eines anderen Jungen zu legen.«

Diese Fatalität der Immerschon und Immerwieder, das präzise zeitgeschichtlich bestimmt ist und ebenso überzeitliche Geltung beansprucht, dieses monotone Abschreiten der Stationen bei Frühlingserwachen scheint weltgültig. Das wissen auch die Nichtbetroffenen. Aber Wissen ändert überhaupt nichts. Also setzt Wojnarowicz nicht auf aufklärerische Argumente, die in jeder Talk- Show verständnisvoll ausgebreitet werden, sondern auf Rührung und Mitgefühl durch melodramatische Elemente. Er nutzt die werbestrategischen Essentials (AIDA ist das Zauberwort: attract Attention, maintain Interest, create Desire, get Action), löst einen emotionalen Kick aus, wendet sich aber doch in der Werbewelt gegen die selbstverständliche Beiläufigkeit, mit der man Werbung registriert. Wer den Text zu lesen beginnt, weiß zunächst nicht, worum es sich handelt. Und selbst wenn die Zeilen nicht zuende gelesen, plötzlich überflogen und nur noch Fetzen registriert werden (wie oben) bleibt etwas hängen, weil man nicht weiß — ja was nun? Werbung? Literatur? Kunst? Teil einer sozialen Plastik?

So bleibt der Eindruck und beschäftigt die Erinnerung. Würde man einen Impact-Test machen, so bliebe der Eindruck dieses Plakates stärker als alles andere, was man zwischen zwei Zügen aufgeschnappt hat. Denn der Text wirkt durch seine Monotonie, kommt ganz ohne Schlagzeile aus und verstört durch den ungetrübten, klaren Blick auf die Wirklichkeit.

Natürlich kann man sich über die Fakten streiten. Aber man wird dann immer über die Wirklichkeit sprechen müssen, über die eigenen und über die der anderen. Bei Bachmann kann man sich darum auch kümmern; aber sein Bild ist durch den Kunstkontext entschärft. Wojnarowicz dagegen gehört zu jenen jungen amerikanischen Künstlern, die Kunst an unverhofften Orten politisieren und die Grundvoraussetzungen der Gesellschaft in Frage stellen, den Konflikt suchen und schärfen. Bachmann gehört zu den anderen, die den Konflikt ins Bild hineinnehmen. Er bezieht sich auf einen Mythos, der die Konflikte formalisiert und anonymisiert. Wojnarowicz verweist auf eine Gesellschaft; sie ist veränderbar. Peter Herbstreuth

Bachmann bei Springer bis zum 9.1.; Di-Fr 14-19, Sa 11-14 Uhr, Wojnarowicz in verschiedenen U-Bahn-Stationen, unbestimmte Zeit