: „Insgesamt gesehen eine saubere Arbeit“
Der Abriß des AKW-Fossils Niederaichbach nähert sich der „heißen Phase“/ Weltpremiere soll Weltmarkt für AKW-„Rückbauer“ eröffnen ■ Von Thomas Fricker
Niederaichbach (taz) — Karl Grabenstetter drückt mir ein Dosimeter in die Hand: „Das stecken Sie am besten vorne in die Brusttasche des Overalls“, empfiehlt der Entsorgungsspezialist am Kernforschungszentrum Karlsruhe (KfK). Dann marschiert er auf die Personalschleuse zu: Wir tauchen ein in Deutschlands erste Atomruine, den 100-Megawatt-Reaktor Niederaichbach bei Landshut. Der Meiler wird zur Zeit abgerissen — als weltweit erstes Atomkraftwerk dieser Größe. Wo heute radioaktive Elemente strahlen, soll in ein paar Jahren wieder der Löwenzahn blühen — versprechen die Atomiker.
Jahrelang waren Tausende besorgte BürgerInnen gegen die Abbruchpläne Sturm gelaufen. Vergeblich. In dem grauen unheimlichen Betonklotz hinter den aufwendigen Sicherheitsabsperrungen sind heute Spezialisten damit beschäftigt, das radioaktiv verseuchte Reaktorinnere auseinanderzunehmen. Rund 1.200 Tonnen leicht kontaminierten Stahl haben sie bereits demontiert. Seit wenigen Wochen läuft nun das, was im Jargon der Atom-Abrüster „die heiße Phase“ heißt: der ferngesteuerte Abbau des hochaktiven eigentlichen Reaktorkerns.
Außenstehenden ist normalerweise der Zutritt strengstens untersagt. Innerhalb des Sicherheitsbehälters allerdings herrscht Baustellenroutine: Zwei Männer in orangefarbenen Arbeitsanzügen kommen uns auf dem Weg ins sogenannte Zerlegehaus entgegen. „Zigarettenpause“, grinsen sie und verschwinden in der Schleuse.
232 Millionen Mark an Steuergeldern habe der 100-Megawatt-Prototyp einmal gekostet, erzählt Grabenstetter. Das war in den frühen siebziger Jahren, als die bundesdeutsche Atomindustrie noch auf der Suche war nach dem für den Weltmarkt attraktivsten Reaktortyp. In Niederaichbach entschied man sich für den Typ Druckröhrenreaktor. Doch der Prototyp erfüllte nie die Hoffnungen seiner Erbauer. Zwischen 1972 und 1974 erreichte der Meiler gerade mal 18 Tage den Vollastbetrieb. Dann kam das Aus.
Vermutlich wäre dem technischen Fossil ein langer Dornröschenschlaf beschieden gewesen, wenn nicht die 32 Millionen für den sogenannten „sicheren Einschluß“ und ständig steigende Ausgaben für Wartung und Bewachung den Karlsruher Atomforschern zu schaffen gemacht hätten. Eine runde Million pro Jahr mußten die Betreiber im Schnitt berappen. Die Idee aus einem bislang nie gewagten Abriß Werbekapital für die deutsche Atomwirtschaft zu schlagen, brachte das 200-Millionen-Mark-Projekt schließlich ins Rollen. Diese Motivlage hat kürzlich auch KfK-Projektleiter Volker Rüdinger unverblümt hinausposaunt. Weltweit müssen bis zur Jahrtausendwende rund 70 Reaktoren abgewrackt werden. Ein gewaltiger Markt.
Ingenieur Grabenstetter führt den Besucher zum Zerlegehaus. Das Gebäude wurde eigens für die Abbruchphase des Sicherheitsbehälters errichtet. Innerhalb dieses Einbaus befindet sich ein zweites Containment, das Steuerhaus mit eigener Luftversorgung und 25 Zentimeter dicken Stahlwänden. Eigentlich soll nur dieses Gehäuse für das Abrißpersonal zugänglich sein. Solange das Neutronenschild noch den Löwenteil der Strahlung im Kern abschirmt, verrät einer der Arbeiter, könne man sich aber auch außerhalb des Schutzraumes aufhalten.
„Technisch gesehen“, glaubt Grabenstetter, „hätten wir mit der Endbeseitigung auch schon 1974 beginnen können.“ Über die lange Abklingphase ist gleichwohl auch er froh: „Wenn wir von radioaktivem Abfall reden, muß man eines immer im Kopf behalten: Das wird immer weniger. Das zerfällt.“ Die gegenwärtige Dosisleistung im Reaktor wird offiziell mit 0,18 Sievert pro Stunde angegeben. Das entspricht 18 rem pro Stunde und erscheint im Vergleich zu den heute üblichen kommerziellen Meilern tatsächlich geradezu läppisch. Der Grund: Niederaichbach ist zehnmal kleiner als gängige Reaktortypen und war vor allem nicht 30 Jahre sondern 18 Tage in Betrieb. In Reaktoren der Biblis-Klasse liegt die Strahlung am Ende bei 100.000 rem pro Stunde.
„Gar nichts Geheimes, alles normal“
Den großen Drehmanipulator steuern die Abbrucharbeiter vom Steuerhaus aus zu fünft. Von der Reaktorbühne senkt sich ein gewaltiges Teleskop auf den sogenannten Moderatortank herab, der früher die Brennstäbe barg. Die Bewegungen seiner Greifarme, der Trennschleifer, Fräsen und Haken an seinen Enden überwachen die Mechaniker an einer Vielzahl von Fernsehmonitoren. Um die 25 müssen es sein. Gerade hängt ein vielleicht vier Meter langes Isolierrohr am Greifer. Der Mann am Bildschirm überwacht nur die korrekte Ausführung des Rechnerprogramms. Eine andere stählerne Klaue übernimmt das Rohr, die Kontrolle geht auf andere Monitore, auf andere Beschäftigte über. „Das sind Werkzeuge, wie sie in der Technik überall verwendet werden“, versichert Grabenstetter: „Gar nichts Geheimes, alles normal.“ Aufgabe des letzten, fünften Mannes ist es, das auf einem Förderband plazierte Rohr zu zerkleinern. Lautlos schlägt die Bolzenschere zu. Zumindest Geräusche dringen nicht ins Steuerhaus. In Spezialcontainern soll der strahlende Müll später zur Zwischenlagerung nach Karlsruhe transportiert werden. Ein Endlager, obwohl im Genehmigungsbescheid ausdrücklich als Bedingung für den Abbruch verlangt, existiert bis heute nicht.
Für die Abrißarbeiter sind die Finanzen ein Hauptmotiv. „Im Kraftwerk ist gutes Geld zu verdienen“, plaudert Werkzeugmacher Karl „Sam“ Weiß. Die Löhne liegen deutlich über denen der Branche. Wenn die Druckröhren erst richtig freiliegen und damit auch die Strahlung im abgeschirmten Steuerhaus steigt, gibts nochmal um die 70 Pfennig pro Stunde mehr. „Eine Gefahrenzulage“, glaubt der Werkzeugmacher, sei dies nicht. Und: „Insgesamt gesehen ists eine sehr saubere Arbeit.“ Seine Kollegen finden das auch.
Wenn alles nach Plan geht, sollen in anderthalb Jahren alle strahlenden Teile entfernt sein, insgesamt 1.000 Tonnen radioaktiver Stahl und Beton. Für 1993 ist der Abriß der Außengebäude geplant. Die dabei nochmals anfallenden 130.000 Tonnen Beton will man wiederverwenden — zum Beispiel für den Autobahnbau.
Zwischenfälle sind bisher wenige bekannt. Einmal ist Tritium ausgetreten — radioaktives Wasser. Aber dieses Problem habe man rasch in den Griff bekommen, beteuert Ingenieur Grabenstetter. „Die zulässigen Höchstgrenzen werden nirgends überschritten.“ Es gibt Wissenschaftler, die halten von solchen Versicherungen nicht allzuviel. „Das sind doch Rechenkunststücke, die in der Regel der Realität nicht entsprechen“, sagt etwa Dr. Ludwig Trautmann-Popp. Die tatsächliche Strahlenbelastung in der Umgebung des Meilers könne kurzfristig leicht das Hundertfache des Erlaubten betragen. Für den Fall, daß alles glattgeht, hat der Energiebeauftragte des Bundes Umwelt und Naturschutz in Bayern dennoch tröstende Worte parat: „Die Belastung von Tschernobyl war und ist insgesamt höher als die beim Abbruch von Niederaichbach.“
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