Wahrheitsprobe, Wahrheitsfindung

Begegnung mit Anatolij Wassiljew  ■ Von Marie-Luise Bott

Im Sommer 1987 kam Anatolij Wassiljew erstmals auf Gastspielreise nach Westeuropa. Seine Inszenierung von Viktor Slawkins Zeitstück Cerceau wurde auf dem „Theater der Welt“ in Stuttgart überschwenglich bejubelt. Im September des darauffolgenden Jahres gastierte Wassiljew, Jahrgang 1942 und inzwischen weltweit bekannt als „Nachwuchs“-Regisseur aus Moskau, mit einer Pirandello-Aufführung seiner jungen Schauspieltruppe auf den Berliner Festwochen. Regisseur und Schauspieler lernten während ihres Gastspiels Peter Stein und das Schaubühnen-Ensemble kennen. Kontakte entspannen sich.

Im Sommer dieses Jahres hielt Wassiljew ein Regieseminar im Berliner Künstlerhaus Bethanien. Aber was ist mit seiner eigenen Regiearbeit in Moskau? Von einer englisch- russischen Lear-Inszenierung war die Rede. Jedenfalls hat Anatolij Wassiljew ein neues Pirandello- Stück in seinem schönen Moskauer Theaterkeller, der „Schule der dramatischen Kunst“, erarbeitet. Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt wurde vergangenes Jahr in Salzburg und auf dem Spliter Sommerfestival gezeigt.

Der Keller in der Worowskij- Straße war nur als Übergangs- und Zwischenlösung gedacht. Als künftiges großes Haus hatte die Moskauer Stadtverwaltung Anatolij Wassiljew das alte Filmtheater „Uran“ zugesagt. Drei Jahre sind inzwischen vergangen, aber mit dem Umbau wurde noch immer nicht begonnen.

Statt dessen immer nur Cerceau (uraufgeführt 1985) und Pirandello, Pirandello und Cerceau — seit drei Jahren in 40 Städten und 28 Ländern der Welt. Das ist eher Notlösung als Gastspiel; Wassiljew — ein internationaler Dauergast, der zuhause kein Zuhause findet.

Kann man so arbeiten? Ich weiß nicht, wie es um Wassiljews Theater jetzt steht. Aber die Extreme von internationaler Tournee, sowjetischer Mißwirtschaft und Moskauer Hungerwinter lassen an ein Wort des jungen Aktionskünstlers Vadim Sacharow denken: „Diese russische Welle (im Westen) wird schlecht für uns enden. Man will uns ans allgemeine Netz anschließen. Aber für viele wird diese Spannung die Katastrophe bedeuten.“

Anatolij Wassiljew sah die Arbeit von Peter Brook in den Pariser „Bouffes du Nord“. Er träumt davon, wie Brook seine Truppe zu durchmischen, sich vielleicht ganz in Westeuropa niederzulassen. Aber da gibt es Sprachbarrieren für Wassiljew, und natürlich ist er im Russischen verwurzelt.

Im August 1988 sagte Anatolij Wassiljew in einem Interview für die russische Zeitschrift 'Kontinent‘: „Wissen Sie, ich fange jetzt gerade an mit den Proben zu Pirandellos Stück Heute Abend wird aus dem Steggreif gespielt. Ich untersuchte da ganz allgemein die Idee der Improvisation und der Freiheit. Dort entwickelt sich die Freiheit, die zunächst als Improvisation existiert, Schritt für Schritt und wird schließlich zu einer Naturgewalt. Jede Beziehung zur Freiheit in der Geschichte der Menschheit barg immer auch die furchtbarsten Katastrophen. Deshalb muß es etwas geben, was diese Befreiung reguliert. Die Menschen müssen dazu, ich sagte das schon, beherrscht und tapfer sein.“

Zuletzt bin ich Anatolij Wassiljew im September 1988 in Berlin begegnet. Wir gingen von der Theatermanufaktur am Halleschen Ufer zu einem kleinen türkischen Café. Wassiljew saß verschlossen grübelnd vor seinem Kaffee, den er nicht trank, antwortete auf keine meiner Fragen, sondern bohrte statt dessen nach meinen Eindrücken von der Cerceau- Aufführung. In Gedanken verabschiedete ich mich von der Idee eines Gesprächs. Ich fragte mich aber, wie ein Regisseur, der so voller Spannungen und Allüren steckt, in der Arbeit mit den Schauspielern die Knoten lösen und den Weg für den jeweils nächsten Schritt freilegen will.

Also griff ich doch noch einmal eines seiner eigenen Stichworte auf und fragte Wassiljew, auf welchen Traditionen sein „psychologischer Realismus“ beruhe. In dürren, trockenen Worten dozierte er der Westlerin über die Anfänge des Moskauer Künstlertheaters. Ich sah den intimen, dunken Raum des alten Künstlertheaters vor mir. Zufällig hatte ich mich damals bei einer Probe auf jenen Platz in der dritten oder vierten Reihe gesetzt, auf dessen Rückenlehne das Schild „W. N. Dantschenko“ angebracht war. Auf der anderen Seite des Mittelgangs war genau solch ein Platz für „K. S. Stanislawskij“ reserviert. Ich sah im Geist vor mir Tschechows Dramen ablaufen, so dicht und leicht, wie ich sie noch nie sah. Und inzwischen bellte Wassiljew immer wieder: „Hast du verstanden?“

Schließlich spielte ich carte blanche. Es sei merkwürdig, was er auch inszeniert oder jetzt geplant habe: Erwachsene Tochter eines jungen Mannes von Slawkin, Sechs Personen suchen einen Autor, König Lear, Eines langen Tages Reise durch die Nacht von O'Neill oder Das Puschkinhaus von Andrej Bitow, immer seien es Stücke über Väter und Töchter oder Söhne (bei O'Neill und Bitow); Stücke, in denen Kinder ihre Eltern auf die Wahrheitsprobe stellen: Sind sie bereit, ihren Kindern die Wahrheit zuzumuten, halten sie die Wahrheit ihrer Kinder aus? (Cerceau ist die Ausnahme: das fiebrig bewegte Nachdenken jener großgewordenen Kinder — „Ich bin 40, sehe aber noch jung aus“ — über sich selbst.) Sind das vielleicht die Wurzeln von Anatolij Wassiljews ungewöhnlichem „Realismus“ auf der sowjetischen Bühne?

Wassiljew war verdutzt und fiel erneut ins Grübeln. Darüber müsse er nachdenken. In einer Gesellschaft, die so lange außerhalb jeder Diskussion und Kritik stand, in der auch die Eltern für ihre Kinder außerhalb jeder Diskussion standen — dabei gab es die stalinistische Lüge, dabei gab es Fragen —, mußte Wassiljews schmucklose improvisierende Theaterarbeit, die den Kampf um Wahrheit, um Befreiung in jenem innersten Bereich einkreiste, vor allem unter den jungen Zuschsauern sehr stark wirken. Auf dem Rückweg an der Brücke über den Landwehrkanal war jede Verspannung weg und wir waren für einen Augenblick wieder bei der Sache, die uns gemeinsam angeht: dem Theater der Gegenwart.