Linearität ist bloß Fiktion

Die Philosophin Jeanne Hersch — ein Portrait  ■ Von Hanna Rheinz

Am 13.Juli 1990 feierte sie ihren 80.Geburtstag: Jeanne Hersch, die jüdische Philosophin aus der Schweiz, die noch bei Martin Heidegger in Freiburg studierte, als dieser bereits Gleichschaltung und Führerprinzip philosophisch zu begründen versuchte. Jeanne Hersch wandte sich schließlich von Heideggers romantisierender Existentialontologie ab und wurde neben Hannah Arendt Schülerin von Karl Jaspers in Heidelberg. Herschs Hauptwerk „Das philosophische Staunen — Einblicke in die Geschichte des Denkens“ ist zwar zur Zeit vergriffen, durch den Essay- Band „Die Hoffnung Mensch zu sein“ und ihre mit Gabrielle und Alfred Dufour geführten autobiographischen Gespräche „Schwierige Freiheit“ wurde sie jedoch auch im deutschen Sprachraum einem größeren Leserkreis bekannt. Eine Lesung in München bot Anlaß für ein Gespräch mit Jeanne Hersch.

Mit ihrem glatten, im Nacken zu einem Knoten geschlungenen Haar wirkt sie auf den ersten Blick streng. Eine würdevolle, grauhaarige Professorin der Philosophie? Eine jener Zeitzeugen, die in Rückblicken auf Vergangenes schwelgen? Sie ist wachsam, bereit, jederzeit zurückzukehren, um „die Dinge beim Namen zu nennen“.

Denn leeres Gerede ist ihr ebenso zuwider wie Unaufrichtigkeit und Selbstmystifikation. Hochtrabende Handlungsentwürfe, geschwollenes Wortgewälze, das sich selbst genügt, nicht den Anspruch erhebt, Handeln vorzubereiten, kritisiert sie unerbittlich. „Ehrlichkeit“ ist ein Schlüsselwort: Menschen „beim Wort nehmen“, sie mit den Konsequenzen des eigenen Tuns und Redens konfrontieren. Sie stellt sich in die Tradition der Philosophie von Karl Jaspers, versteht sich mit Hannah Arendt als Verwalterin seiner Werke.

Am 13.Juli 1910 wurde Jeanne Hersch in Genf geboren. Ihre Eltern stammten aus Polen und wanderten als Studenten in die Schweiz, ihrem „Land der Freiheit“, ein; sie gehörten dem „Bund“, der jüdischen Arbeiterpartei an. „Von Geburt an“ Sozialistin und Demokratin, wurde sie auch von den jüdischen Traditionen ihres Elternhauses geprägt: Man sprach Jiddisch. Im Gegensatz zu den Zionisten, die eine Renaissance des Hebräischen propagierten und die jiddische Sprache erbittert bekämpften, hielten die Bundisten beharrlich am Jiddischen fest: Durch Theatergründungen und vielfältige literarische Aktivitäten setzte sich der internationalistisch orientierte, aber antikommunistische Arbeiterbund dafür ein, dem gesprochenen Jiddisch ein „Denkmal aus Büchern“ zu setzen.

Hersch erinnert sich, wie sie als Kind, fasziniert vom Wechsel der Sprachen, bemerkte, welche Schwierigkeiten sich bei der Übertragung der einen in die andere Sprache ergeben: Begriffe, die ihre Eltern im Polnischen und Jiddischen gebrauchten, ließen sich nicht ins Französische oder Deutsche übersetzen — und vice versa. Wenn die Eltern über Philosophie diskutierten, wurde Polnisch gesprochen, ein Umstand, der sich für sie später bei ihren Übersetzungen aus dem Polnischen — sie übersetzte unter anderem Czeslaw Milosz — als vorteilhaft erwies. Das Wiedererinnern von Bekanntem jedoch stieß an Grenzen. Der früheren Ohrenzeugin waren lediglich die Fachbegriffe der Philosophie vertraut: Umgangssprachliches, Bezeichnungen für die Dinge des Alltags waren Fremdworte.

Jeanne studierte zunächst Literaturwissenschaft in Genf und Paris. Die Philosophie trat ihr im Alter von 18 Jahren bei einem Aufenthalt in Heidelberg in Gestalt Karl Jaspers entgegen. Sie war für sie zunächst eine weitere „Fremdsprache“, die es zu erobern galt. Jeanne entschloß sich, Deutsch und Philosophie zu studieren. Hartnäckig blieb sie dabei, obwohl sich ihr immense Schwierigkeiten in den Weg stellten: Wie sollte sie dem philosophischen Diskurs in der fremden Sprache folgen? Wie ein Berg ragte das eigene Nichtverstehen vor ihr empor, erinnert sie sich heute. Ebenso unerbittlich, „wie ein Imperativ“, forderte sie von sich: „Hier gibt es für dich etwas zu verstehen.“ Beschwerlich der Erkenntnisprozeß, den sie mit einer langen Wanderschaft vergleicht: Mühsam suchte sie sich ihren Pfad, tastete sich an Begriffen entlang, um einen Abschnitt holprig entziffern zu können und schließlich zu erleben, wie das eigene Verständnis wächst, der Zugang gefunden war zur „unbekannten Wirklichkeit im Denken eines anderen Menschen“. Als Eroberungen, als spannende Abenteuer des Geistes beschreibt Jeanne Hersch ihre Auseinandersetzungen mit philosophischen Theorien. Reisen, die keine Grenzen mehr zu kennen scheinen, in dem Maße, wie das Einfühlungsvermögen, zu dem ein „geschulter Verstand“ fähig ist, wächst. Erkennen bedeute für sie, in den Wirklichkeiten zu denken, die dort in den Büchern verschlossen sind. Deswegen sei es wichtig, Wissen zu haben, um von einer Wirklichkeit in eine andere gehen zu können.

„Seit Jahrhunderten“, schreibt Hersch in ihrem Essay Der Philosoph und die Politik, „pocht der Philosoph an die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Er tastet sich in der Dunkelheit voran und sucht Halt an den allzu glatten Felswänden der Tautologien: Das Seiende ist, der Wert gilt, das Absolute ist das Nichtrelative.“ Hersch bestimmt die Aufgabe des Philosophen: „Alternativen aufzuzeigen, ihnen Sinn und Gewicht zu verleihen, von den grundsätzlichen Überlegungen bis in die Folgen zu gehen, damit was zur Wahl steht soweit wie möglich vor dem Gewissen erläutert ist.“

Bereits als junges Mädchen faszinierte sie die Welt Andersdenkender. Die Warnungen ihrer Eltern schlug sie in den Wind und handelte sich schließlich sogar den Vorwurf des „Verrats“ ein, als sie nach 1933 ihr Philosophiestudium bei Martin Heidegger in Freiburg fortsetzte. Doch schon bald erkannte sie an Heideggers philosophischem Denken Züge der Propaganda für den Nationalsozialismus. Ihre Beschreibung Heideggers entbehrt nicht der Komik. Inneres Wesen und äußere Erscheinung Heideggers gehen ineinander über: Von kleiner Statur, fast quadratisch, finster blickend, mit kantig nach vorne gestoßener Stirn, schien Heidegger auch physiognomisch den „Dunkelungen“ einer Philosophie zu entsprechen, stand Germanenkult und teutonischen Erdgeistern näher als der griechischen Antike, die nach Gleichmaß, Ratio und Licht strebt. Die „Urgründe“ der Heideggerschen Philosophie (in denen Hersch Elemente der Magie entdeckt) wurzelten, führt sie aus, nicht in Aufklärung und dem Willen nach Erkenntnis, sondern im Streben nach Macht und demagogischer Einflußnahme. Dabei habe sich Heidegger „unredlicher Verdichtungen“ bedient. Sie seien für ihn Mittel zum Zweck gewesen, seine Ziele zu erreichen: die Auslöschung des Individuums durch Gleichschaltung und Unterordnung unter das Führerprinzip, damit die neue nationalsozialistische Gesellschaftsordnung verwirklicht werden könne.

Jeanne Hersch kritisiert Übertreibungen jeglicher Art. Als Beispiel nennt sie „mystische Erfahrungen“. Ohne die subjektive Realität dieses Erlebnisses leugnen zu wollen, ist ihr zuwider, wenn Mystik zum Programm erhoben wird. Zumal so ihr „Augenblicks-Charakter“, von vielen Mystikern beschrieben, verlorengehe. Instantgefühle, Sekten entstehen in der Folge dieser unzulässigen Übertragung von der individuellen auf die kollektive Ebene. Sie vertreten, nach Hersch, „eine amorphe, präverbale, subjektivistische Weltsicht“, durch die das antidemokratische Denken tradiert werde. Unter Führung von wenigen, die als Idole verehrt werden, weil sie sich auf Heilserfahrungen beriefen, weiche man hier der Mühsal des Denkens, „dem Umweg über die Form“ aus. Nur über Objektivierung und Struktur jedoch, führte die Philosophin aus, könne Selbstverantwortung und Entscheidung zur Freiheit verwirklicht werden.

„Heute weiß ich, das das Bild eines Menschen dem inneren Blick nur standhält, wenn man ihn ganz in sich selbst ruhend gesehen hat“, schreibt sie in ihrem literarischen Versuch Begegnungen, den sie, entgegen der Absicht ihres Verlegers, nicht als Roman verstanden wissen wollte. Spielerisch habe sie dieses Mittel auschöpfen wollen, um ihre Gedanken zu gestalten, neue Ganzheiten zu finden. Philosophie und Kunst seien nur scheinbar unvereinbar.

Das sei für sie nie ein Gegensatz gewesen: Wissenschaft oder Kunst. Denken und Kunst beruhen nach Hersch auf schöpferischen Prozessen. „Das Experimentieren im Denken und in der Kunst wird unterschätzt. Das ist das Mißverständnis zwischen dem Künstler und seinem Publikum: Das Publikum schaut das Bild als ein fertiges Bild an, während das Bild für den Künstler in erster Linie ein Tun ist: Er malt, er setzt die Farben. Das Tun steht im Mittelpunkt. Das Publikum vertritt meistens die Auffassung, daß der Künstler etwas ausdrückt.“

Dennoch setzte Jeanne Hersch ihr literarisches Experiment nicht fort: „Eigentlich bin ich eine alte Lehrerin“, kommentiert sie ihre über vierzigjährige Unterrichtserfahrung. Zunächst war sie Gymnasiallehrerin an der Ecole Internationale in Genf, ging dann Lehraufträgen in den USA nach und erhielt 1956 eine Professur für Systematische Philosophie an der Universität Genf. Unterrichten bedeute für sie „aktives Einfühlen in die Lebenswelten anderer Menschen“, um Brücken gegenseitigen Verständnisses zu bauen. Ihre Arbeit in der UNESCO, ihr Engagement für Behinderte, Veröffentlichungen zu Fragen der Ethik, der Menschenrechte, aber auch zum Schwangerschaftsabbruch zeugen davon, daß sie Philosophie nicht im Elfenbeinturm betrieb, sondern stets ihre gesellschaftliche Relevanz und politische Umsetzbarkeit reflektierte.

In den nächsten Jahren hofft sie, eine Untersuchung über die Frage der „Zeit“ abzuschließen. Mit dem strikten Nacheinander der zeitlichen Ordnung habe sie sich nie abfinden können, die Linearität der Zeit sei nur Fiktion, vergleichbar mit den vom Verstand vorgenommenen Trennungen in Wissensbereiche. Die Einheit des Erlebens, nach der Jeanne Hersch sucht, wird für sie unmittelbar im Kunstwerk erkennbar. Dessen „Vollkommenheit“ beruhe darauf, daß alle Teile miteinander und auf das Ganze bezogen seien. Diese dialogische, dynamische Qualität des künstlerischen Handelns bewirke, daß nicht das vollendete Werk, sondern fortgesetztes Tun das eigentliche Anliegen des Künstlers sei. Diese Qualitäten könnten auf den „geübten Verstand“, das rationale Denken des Philosophen, übertragen werden, denn auch hier komme Intuition zum Tragen. Form und Inhalt, L'Etre et la Forme, Thema ihres noch nicht ins Deutsche übersetzten philosophischen Hauptwerks, stehen aus diesem Grund in einem Zusammenhang.

An ihren politischen Überzeugungen treten zuweilen konservative Züge hervor: Der ökologische Ansatz blieb ihr fremd. „Um ihre Ideen zu verteidigen, benutzen die Ökologen die Waffe der Angst. Man soll die Probleme genau studieren, aber nicht mit zitternder Stimme durchs Leben gehen.“ Hier vermißt sie Redlichkeit; die Härte der Wirklichkeit anerkennen, „die Dinge ehrlich ansehen“, wählen, wenn man vor die Wahl gestellt wird, sich nicht in Illusionen wiegen und „leidenschaftlich verzweifelt“ meinen, Widersprüchliches zur gleichen Zeit verwirklichen zu können. Was sie damit meint, wird an einer Anekdote deutlich: Einem Studenten, der ihr seine Betroffenheit über den Welthunger klagte, riet sie kurzerhand, wenn er „wirklich“ darunter leide, nicht Philosophie, sondern vielmehr Agronomie zu studieren, um zu lernen, wie die landwirtschaftliche Produktivität in der Dritten Welt erhöht werden kann: „Denn wenn etwas schwierig ist, muß man es tun und nicht darüber große Worte machen.“