Deutsche StudentInnen suchen Asyl—ein Grenzfall

Eine martialisch befestigte Staatsgrenze und die Wohnungsnot in der Universitätsstadt Konstanz treiben seltsame Blüten/ Wohnasyl in der Schweiz/ Leibesvisitation auf dem Weg zur Uni  ■ Von Lothar Deeg

Schon zweimal mußte sich der Konstanzer Psychologiestudent Jürgen Kellner auf dem Weg zur Vorlesung nackt ausziehen — doch fündig wurden die Drogenfahnder in seinen Jeans und Schuhen dabei nicht. Und auch Stephan Kohler macht sich lieber mit einer halben Stunde Zeitpolster auf den Weg, wenn er pünktlich an der Uni sein muß. Denn sollte ihn auf dem Weg zur Bushaltestelle wieder einmal ein Zivilfahnder für einen gesuchten Kriminellen halten, so dauert es eben seine Zeit, bis dieser überzeugt ist, daß er lediglich einen ähnlich aussehenden Studenten der Verwaltungswissenschaft aufgegriffen hat.

Die Begegnungen der unberechenbaren Art verdanken Jürgen und Stephan ihrer für deutsche Hochschüler einzigartigen Wohnsituation. Wie einige hundert andere Studenten der Konstanzer Universität leben im Ausland, in der Nachbarstadt Kreuzlingen hinter einem 2,5 Kilometer langen Grenzzaun aus Beton und Maschendraht: nach dem Fall der Mauer das letzte Stück befestigte Staatsgrenze der Bundesrepublik.

370 deutsche StudentInnen und Universitätsangehörige haben sich mit Genehmigung der Schweizer Behörden in Kreuzlingen niedergelassen, 500 sind es insgesamt im Kanton Thurgau. In Konstanz ist es jedoch ein offenes Geheimnis, daß nicht nur sie auf dem Weg zur Uni täglich einen der vier Grenzübergänge passieren: Eine möglicherweise dreistellige Zahl von StudentInnen hat sich einfach illegal im Nachbarland eingemietet.

Da der Konstanzer Wohnungsmarkt gänzlich abgeräumt ist, stellen die unvorhersehbaren Grenzschikanen noch das erträglichere Übel dar. Eine Studentenbude in leidlicher Uni-Nähe zu ergattern, ist in der 70.000-Einwohner-Stadt fast noch schwieriger als anderswo. In drei von vier Himmelsrichtungen fehlt der Stadt am Bodensee das Umland, in das wohnungssuchende StudentInnen ausweichen könnten.

In Kreuzlingen sieht der Wohnungsmarkt anders aus: „Hier ist eher ein Arbeitermilieu, wo die Leute darauf drängen, ihre Wohnungen dauerhaft zu vermieten“, sagt der Volkswirtschaftsstudent Fabian Hohbach. Angesichts seines gar nicht proletarischen Wohnkomforts klingt das etwas seltsam: Mit drei Studenten teilt er sich eine Fünfzimmerwohnung mit Geschirrspüler in der Einbauküche und Waschmaschine im Keller. Die Warmmiete von 1.200 Schweizer Franken (1.440 D-Mark) ist zwar auch nicht bescheiden, aber in Konstanz wäre es nicht billiger. Ein Glückstreffer? „Die Wohnung stand drei Monate leer, bevor wir eingezogen sind. Zimmer- oder Wohnungssuche ist eigentlich kein Problem hier.“

Fehlt nur noch der begehrte Stempel im Reisepaß, der für einen Schweiz-BewohnerInnen so wichtig ist wie der Studentenausweis für die Mensa: Nur so darf man guten Gewissens hinein. Bis zum November konnte das für einen Wohnasylsuchenden teuer werden. Die Kreuzlinger „Einwohnerkontrolle“ hatte sich nämlich die mühselige Arbeit mit einer Warteliste für die Plätze im Kontingent erleichtert und erlaubte jeder/m nach Deutschland zurückkehrenden StudentIn, dem Amt eine/n NachfolgerIn zu präsentieren. Und wie überall, wo das Angebot knapp und die Nachfrage groß ist, entstand auch in Konstanz ein lukrativer Schwarzmarkt. Bis zu 500 D-Mark wurde an den Pinnwänden der Uni für den gemeinsamen Gang aufs Kreuzlinger Rathaus verlangt.

Und die Tarife wären wohl kaum wieder gefallen, denn zum Wintersemester schrieb sich an der Universität die neue Rekordzahl von 9.400 StudentInnen ein. Doch um der Preistreiberei ein Ende zu setzen, einigten sich die Universitätsverwaltung und die Schweizer darauf, die Warteliste wieder einzuführen. Nur erledigt jetzt das Uni-Rektorat die Arbeit und registriert einmal im Monat die Rückmeldungen. Zum ersten Termin im Dezember fanden sich 140 Aussiedlungsgesuche in den speziell dafür vorgesehenen Briefkästen. Doch nur etwa 50 von ihnen, schätzt Detlef Zilz von der Uni-Verwaltung, werden innerhalb des nächsten Jahres von ihm den Bescheid bekommen, daß sie sich in Kreuzlingen anmelden dürfen.

An der prekären Wohnraumsituation in Konstanz ändert das natürlich nichts. Stephan Unger, der Leiter des Studentenwerks, kann nur etwa 2.000 Wohnheimplätze anbieten. Zu Beginn des Wintersemesters wurde in der alten Mensa wieder einmal ein notdürftiges Massenquartier für eine Hundertschaft obdachloser Erstsemester eingerichtet. Eine Erhöhung des StudentInnenkontingents in der Schweiz könnte die Lage entspannen. Doch Unger hat da keine großen Hoffnungen: Die letzten Anträge der Uni in dieser Richtung seien ins Leere gegangen.

Die angeblich drohende Überfremdung des Alpenvolks, bei den Eidgenossen ein gewichtiges politisches Argument, trifft auch die Konstanzer Studentschaft. Über 15 Prozent Ausländeranteil habe der Kanton bereits, sagt der Chef der Thurgauer Fremdenpolizei, Regierungsrat Hermann Bürgi. Da könne man nicht ohne Rücksicht „in der Grenzregion Kreuzlingen die Schleusen öffnen“. Grundsätzlich sei man natürlich bereit, einen weitergehenden Beitrag zu leisten.

Doch jeder entsprechende Schritt wird von den Einheimischen mit Argwohn betrachtet. Als der Konstanzer Bürgermeister Ralf-Joachim Fischer unter dem Eindruck der innerdeutschen Abrißarbeiten öffentlich die Beseitigung des häßlichen Grenzzauns zwischen den Nachbarstädten forderte, reagierte nicht nur die Schweizer Grenzwache ablehnend, denn schon jetzt stiegen nachts reihenweise illegale Grenzgänger, Schmuggler oder unerwünschte Asylbewerber über den Zaun. Leserbriefschreiber im Kreuzlinger Lokalblatt 'Thurgauer Volksfreund‘ wurden noch deutlicher: Der Zaun muß stehen bleiben, wie solle man sich sonst der „unerwünschten illegalen Eindringlinge aus Konstanz“ und allerlei „dunkler Gestalten“ erwehren? Nur positive Reaktionen habe sie erhalten, berichtete eine Thurgauerin, die vorgeschlagen hatte, man solle den Zaun „unter Strom stellen oder aber wieder mit Stacheldraht bestücken“.

Dabei ist die Geschichte der stellenweise schief und rostig gewordenen Grenzanlage wenig geeignt, positive Gefühle zu wecken. 1939/40 im Zusammenhang mit einer Grenzbegradigung von beiden Seiten gemeinsam errichtet, verhinderte der Zaun nur vordergründig „Schmuggel und Devisenvergehen“. Einmütig konnten Gestapo und Schweizer Fremdenpolizei feststellen, daß sich so auch „illegale Einreisen“ in die Schweiz minimieren ließen. Doch meist waren es Juden oder politisch Vefolgte, die da nachts mit Geld und Schmuck im Gepäck aufgegriffen wurden. Das geschmuggelte Kapital war schließlich bitter nötig, um sich über die wenig gastliche Schweiz ins Ausland zu retten. Auch Georg Elser, der glücklose Münchner Hitler- Attenäter, wurde im November 1939 auf der Flucht in Konstanz festgenommen und verschwand für immer im KZ.

Die in der Schweiz siedelnden Studenten stört weniger der Maschendraht an der Grenze. Unangenehmer ist, daß schon der schnelle Einkauf auf dem Heimweg die Warenfreimengen des Schweizer Zolls überschreiten kann. Mehr als zwei Liter Bier oder 125 Gramm Butter pro Kopf und Tag sind beispielsweise nicht erlaubt. Angesichts der großen Preisdifferenzen zwischen den Ländern ist es kein Wunder, daß die Grenzer auf ihre Standardfrage „Hend Si Ware debii?“ nicht immer die ganze Wahrheit erfahren.

Solange die Studentin Charlotte (Name geändert) in einer Kreuzlinger WG gleich hinter der Grenze lebte, ließ sie die Finger vom Schmuggeln. Sie tat auch gut daran, allzu intensive Gespräche mit den Heeren in den grauen Anoraks zuvermeiden, denn sie war über ein Jahr lang eine „Illegale“. Wäre sie aufgeflogen, hätten die Schweizer sie binnen 24 Stunden mit Sack und Pack an die Luft gesetzt. Dazu gibt es manchmal noch eine mehrjährige Einreisesperre — für BewohnerInnen der Beinahe-Exklave Konstanz eine bittere Pille. Daran mochte Charlotte gar nicht denken, denn ihr Freund lebt offiziell in der Schweiz. Ein echter oder zumindest im gegenseitigen Einvernehmen vorgeschobener Partner jenseits des Zauns ist aber auch die beste Versicherung für einen Illegalen.

Charlottes Suche nach einem Platz im Kontingent blieb lange erfolglos. Aushänge am Schwarzen Brett der Universität brachten zunächst nichts außer einem Heiratsantrag eines Schweizer Frührentners, der sich selbst mehr Rente, seiner neuen Gattin aber gesichertes Aufenthaltsrecht und keine weiteren ehelichen Verpflichtungen versprach. Charlotte blieb ledig.

Schließlich kam sie auf deutscher Seite unter. Daß sie gerade dann gleich zwei Aufenthaltsgenehmigungen hätte übernehmen können, half ihr nun auch nichts mehr. So blieb ihr auch eine weitere Spezialität der Eidgenossen vorenthalten: der „Ausländerausweis“. Darin können die glücklich Aufgenommenen nachsehen, warum sie hineingelassen werden: Nicht etwa zum Wohnen — unter „Aufenthaltszweck“ steht „Studium im Ausland“.