Polens Probleme mit Litauen-Krise

Parlament ruft Moskau zur Anerkennung der Unabhängigkeit Litauens auf/ „Erinnerungen an den Hitler-Stalin-Pakt“/ Angst vor Flüchtlingsbewegung/ Die Rolle der polnischen Minderheit  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Die Ereignisse in Litauen waren am Freitag und Samstag in Polen beherrschendes Thema. Auch das polnische Parlament, das am Freitag zusammengekommen war, um über die Regierungserklärung des neuen Premier Bielecki und die Zusammensetzung seiner Regierung zu debattieren, änderte seine Tagesordnung. In einer gemeinsamen Stellungnahme von Sejm und Senat war von „äußerster Unruhe über die in Litauen entstandene Situation“ die Rede. Die Regierung forderte die Sowjetunion auf, das Selbstbestimmungsrecht anderer Völker anzuerkennen. Das Vorgehen Moskaus erwecke in Polen „schwärzeste Erinnerungen an den Hitler-Stalin-Pakt“. Das Außenministerium und zahlreiche politische Parteien schlossen sich diesem Tenor an. Vor dem Senat sprach außerhalb der Tagesordnung der gerade in Warschau weilende Abgeordnete des litauischen Parlaments und Vertreter der polnischen Minderheit in Litauen, Czeslaw Okinczyc, der Polen unter Tränen und mit versagender Stimme um Hilfe für Litauen bat: „Polen, das mehrfach in seiner Geschichte den Interessen mächtigerer Nachbarn geopfert wurde, weiß, was es heißt, wenn die Welt schweigt“, rief er.

Der Angriff der Roten Armee auf Litauens Unabhängigkeit bringt die polnische Regierung nicht nur deshalb in eine schwierige Lage, weil die Bevölkerung aufgrund historisch begründeter Sympathien die Ereignisse jenseits der Grenze lebhaft verfolgt. In Nordostpolen leben etwa 80.000 Litauer, in Litauen selbst nach polnischen Angaben knapp 300.000 Polen. Ihre Haltung in der Frage der litauischen Unabhängigkeit reicht von radikaler Ablehnung bis zu kritischer Sympathie. Besonders die bäuerliche Bevölkerung aus der Gegend um Wilna, die ein stark russifiziertes Polnisch spricht und mit den lokalen sowjetischen Machtstrukturen verwachsen ist, hat sich den litauischen Unabhängigkeitsbestrebungen bisher entgegengestellt. Einige der polnischen Gemeinden haben bereits vor längerer Zeit eine autonome Region in Litauen gegründet, die jedoch nicht anerkannt wurde. Vertreter dieser antilitauischen Richtung haben die Einführung der Präsidialherrschaft in Litauen durch Gorbatschow und die Herauslösung des mehrheitlich polnischen Gebietes aus der Litauischen Republik gefordert. Sie wollen eine eigene polnischen Republik — aber im Rahmen der UdSSR. Nur die polnischstämmigen Intellektuellen aus Wilna selbst, wie etwa Okinczyc, unterstützen die litauischen Unabhängigkeitsbestrebungen und arbeiten mit Saujudis, der litauischen Nationalbewegung, zusammen.

Die KPdSU in Litauen und die Sowjetbehörden haben die Haltung der antilitauischen Polen des öfteren gegen die litauische Führung auszuspielen versucht, polnische Vertreter nahmen an Demonstrationen der moskautreuen Minderheit teil und enthielten sich der Stimme bei der Abstimmung über die Unabhängigkeitserklärung im litauischen Parlament. Zusätzliche Unterstützung unter der Landbevölkerung polnischer Herkunft verschafften ihnen polenfeindliche Äußerungen nationalistischer Sajudis-Aktivisten, die ihrerseits die Existenz einer polnischen Minderheit in Litauen überhaupt negieren. Die Gräben gehen so tief, daß beispielsweise die polnischen sowjettreuen Dörfer von der Wirtschaftsblockade der UdSSR gegen Litauen im Sommer ausgenommen waren. Polens Außenpolitiker müssen alle diese Fakten gegeneinander abwägen, umso mehr, als der politische Streit innerhalb der polnischen Minderheit auch sein Gegenstück in der Innenpolitik gefunden hat. National orientierte Parteien wollen die Unterstützung Litauens der Frage der polnischen Minderheit unterordnen. Liberale und sozialdemokratische Gruppierungen treten für volle Solidarität mit der litauischen Unabhängigkeitsbewegung ein und distanzieren sich vom prosowjetischen Teil der polnischen Minderheit in Litauen. In der öffentlichen Meinung spielt seit geraumer Zeit eine andere Angst die Hauptrolle: Die Verhängung des Ausnahmezustandes in der UdSSR könnte eine Fluchtbewegung nach Polen auslösen. Im Fernsehen hieß es, Spezialeinheiten seien zum Schutz der Ostgrenze in Bereitschaft versetzt worden. Zeitungen melden auch, die Bereitschaft Westeuropas, die Visumfreiheit für Polen einzuführen, sei an die Bedingung geknüpft, den Zustrom eventueller Flüchtlinge aus der Sowjetunion genau zu kontrollieren. Eine Frage, die für Polen nicht ohne Brisanz ist, haben doch auch jene knapp 300.000 Polen in Litauen einstweilen noch sowjetische Pässe.