Gorbatschow ist nicht zu Hause

■ Das politische Unrecht und das historische Recht des Weltpolitikers KURZESSAY

„Er ist nicht zu Hause“, hat man dem litauischen Präsidenten Landsbergis geantwortet, als er versuchte, die ultima ratio, den militärischen Angriff auf das litauische Parlament mit Hilfe des Großen Bruders zu verhindern. Wo versteckt sich eigentlich der Nobelpreisträger, der Mann des Jahres? Die Panzer überrollen Wilna und Riga: zornige Bürger, verworrene russische Jungs, die zum wievielten Mal schon zu den Okkupanten gemacht werden — schmerzlich bekannte Bilder. Gewiß hatte die Entwicklung im Baltikum, besonders in Litauen, ihre dunklen und gefährlichen Seiten. Die Losung „Nationalstaat um jeden Preis“ hat im Lande extreme Formen angenommen. Schon kurz nach der Volksfrontbildung wurde klar, daß die russischen, polnischen oder sonstigen Minderheiten aus dem demokratischen Prozeß ausgeschlossen werden. Die Politik rutschte immer mehr in die Richtung des allumfassenden Nationalismus. Die Chance für die Teilnahme der anderen Gruppen war kaum vorhanden. Sie werden in Bürger zweiter Klasse verwandelt. Die anfängliche Unterstützung der baltischen Unabhängigkeit durch die dort lebenden russischsprachigen Intellektuellen wurde zunichte gemacht, sie befinden sich in der Apathie. Die Arbeiter, von den Vertretern der Zentralbehörden und entsprechenden Ministerien angeheizt, werden zu aggressiven und bedenkenlosen Verfechtern des Präsidialregimes. Die Panzer haben alle im Baltikum lebenden Russen zu den Okkupanten gemacht und alle potentiellen Möglichkeiten des Konsens vernichtet. Noch mehr: Die Wehrdienstpflichtigen aus den Republiken, die jetzt mit Gewalt zum Militärdienst gezwungen sind, werden innerhalb der Armee zu den Haßobjekten, zu den Prügelknaben und gleichzeitig zur Fünften Kolonne, die nicht mehr vor Gewalt zurückschrecken werden. Der Bürgerkrieg in der Armee wird die Bemühungen der Generale, die Sowjetarmee und damit die Ganzheit der Union zu behalten, scheitern lassen. Welche Formen dies annimmt, daran denkt man lieber nicht.

Gorbatschow hat sich lange bemüht, die Möglichkeiten für eine Koexistenz von Demokraten und Konservativen innerhalb derselben Machtstrukturen zu finden. Doch eine Verständigung erwies sich als unmöglich. Der Grund dafür ist dabei nicht in der Schwäche des Präsidenten zu suchen. Es ist die Abwesenheit der sozialen Schichten, die ihren Willen zu positiven Veränderungen den konservativen Kräften entgegensetzen könnten. Im Frühling dieses Jahres wurde deutlich, daß die Öffentlichkeit in der Sowjetunion kaum als politische Kraft ernst zu nehmen ist. Es wurde auch klar, daß die Vertreter des Volkes zur systematischen Arbeit der Demokratisierung noch nicht bereit sind. Die von den Demokraten vorgeschlagenen sozialen Projekte des Übergangs zur Marktwirtschaft, zur parlamentarischen Demokratie sind deklarativ und rhetorisch. Sie ziehen kaum die reale soziale Situation im Lande in Betracht noch begreifen sie die Interessen ihrer mächtigen Opponenten. Das Massenbewußtsein hält sich eher an das Pathos der Kritik der demokratischen Führer. Von ihren ökonomischen und politischen Aufgaben hat es keine Vorstellung. Die Idee der Marktwirtschaft findet keinen großen Anklang. Sie wirkt beängstigend und entmutigt. Könnte es überhaupt nach den 70 Jahren Diktatur anders sein und nach der konsequenten Vernichtung der intellektuellen Elite? Die Schwäche und Wurzellosigkeit der Demokratie im Lande war Gorbatschow mehr als anderen bewußt. Der Präsident hat richtig kalkuliert: Die einzige allgemeinverständliche Sprache der internationalen und sozialen Beziehungen in der Union, die Sowjetmenschen verstehen, ist die Sprache der Gewalt. Der außerstaatlichen Gewalt will Gorbatschow nun die staatliche Gewalt entgegensetzen.

Der Träger der staatlichen Gewalt ist die Armee. Er hatte die Absicht, die Armee zur Wiederherstellung der Ordnung zu benutzen. Doch sie hat ihn benutzt, um eigene Ziele zu erreichen. Gorbatschow ist kein Befehlshaber, sondern Geisel der Militärs geworden. Politisch gesehen bedeutet das die peinliche Niederlage eines Weltpolitikers, dessen gewaltiges politisches Potential in der Entropie des unstrukturierten, aggressiv- hysterischen Meeres, zu dem das untergehende Sowjetreich geworden ist, versank. Geschichtlich gesehen aber erscheint sein Bündnis mit dem militärisch-industriellen Komplex als Versuch, dem Schicksal der liberalen russischen Machthaber zu entgehen. Er will weder der von Terroristen ermordete Alexander II. sein noch der Alexander Kerenski, der in Frauenkleidern floh. Was ihm herzlich zu wünschen wäre, ist, daß er für seine große Taten anders bedankt wird.

Was ist nun mit Europa? Wird für die Hungerhilfe weiter gesammelt? Es wäre naiv zu glauben, daß diese Philantropie nichts mit den Ereignissen im Baltikum zu tun hat. Die westlichen Demokratien scheinen noch einmal beweisen zu wollen, daß „München“ ein organischer Bestandteil ihrer Politik, ihrer politischen Mentalität bleibt.

Gorbatschow ist nicht zu Hause. Vielleicht betet er jetzt an Lenins Grab oder arbeitet an seinem Friedenskonzept für die Golfkrise. Er konnte keine Minute finden für einen parlamentarisch gewählten Präsidenten, der einen ungehorsamen Teil seines Reiches repräsentiert. Doch wenn die Panzer sprechen, hat er sowieso nichts zu sagen. Sonja Margolina

Die Autorin zahlreicher Essays (auch in der taz) zur Sowjetunion lebt in Berlin-Kreuzberg.