„Der Rest kann nur Traurigkeit sein“

■ Das schottische Obdachlosentheater „Grassmarket Project“ gastierte vor kurzem vier Tage in Berlin

Neben der üblichen Mischung kulturinteressierter Mitbürger finden sich im Foyer der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz einige, die nicht so recht in die Kultur hineinpassen. Heiko P. zum Beispiel: Parka, Plastiktüte, gerötetes Gesicht. Er kommt aus dem Ostteil und ist seit sechs Monaten ohne Wohnung. Bei der Armenspeisung am Bahnhof Zoo hatte er von dem Theaterstück erfahren, war mit seinen Kollegen bei der Generalprobe gewesen und nimmt am nächsten Morgen an einem Theaterworkshop teil, den das schottische „Grassmarket Project“ mit Berliner Obdachlosen veranstaltet.

Er fühlt sich gleichzeitig heimisch und ein bißchen unsicher inmitten des Premierenpublikums und vor den Fernsehkameras, die sich nur einmal und nur solange für ihn interessieren, bis er seine Sätze gesagt hat: „Ich heiße Heiko P. Ich bin seit sechs Monaten obdachlos. Ich schlafe meist am Zoo.“ 20 Sekunden. Nachdem der Plan der Westberliner Kultursenatorin, die Ostberliner Bühne in ein Tanztheater umzuwandeln, inzwischen vom Tisch ist, kümmert man sich um die Nöte anderer. Vier Tage lang hatte man das Edinburgher „Grassmarket Project“ mit seinem preisgekrönten Obdachlosenstück zu Gast. Die Geschichte von „Glad“ begann vor etwas weniger als einem Jahr am Edinburgher „Grassmarket“. Dort leben die, die frei sind von Geld, Arbeit, Sicherheit. Wenn man ihnen nur eine Wohnung besorgen würde, so meint Regisseur Jeremy Weller, wäre ihnen nicht geholfen. In kürzester Zeit würden sie wieder rausfliegen. Statt dessen inszenierte Weller mit ihnen ein Theaterstück. Unter dem blau flackernden Licht eines sinnlos laufenden Fernsehers agieren Darsteller, die zum Teil ein paar Monate, zum Teil seit mehr als 25 Jahren obdachlos sind. Die Rollen sind typisiert: cholerische Gewalttäter treffen auf Schüchterne, Verlierer, Chefs, Outsider, Philosophen, Sozialarbeiter; sie sind alt oder jung oder — ganz am Ende der Hierarchie — Frau.

Es werden jedoch nicht nur die traumatischen Einzelschicksale der Menschen vom Grassmarket erzählt, sondern auch die Entstehungsgeschichte des Stücks wird thematisiert: die Konfrontation der Welt der Besitzlosen mit der geordneten Welt des Regisseurs, der versucht, die „Underdogs“ zu instrumentalisieren, ihnen zu helfen, oder — und das macht letztlich die Qualität des Stücks aus — mit ihnen ein lebendiges und gesellschaftlich relevantes Theater zu machen.

Ob das Stück erschreckend war, wie eine Zuschauerin angesichts der authentischen Elendswiederholung meinte, oder ob die Zerstörung des Asyls am Ende als symbolische Zerschlagung des Wohnheimwesens — an dem sich Berliner Läusepensionsbetreiber, die einen Teil der auf 20.000 geschätzten Obdachlosen der Stadt beherbergen, dumm und dämlich verdienen — nicht auch etwas Befreiendes hat, sei dahingestellt. Die Wohnraumsituation in der „Hauptstadt der Obdachlosen“ ist inzwischen schlimmer, als es sich SED-Propagandisten noch vor anderthalb Jahren haben träumen lassen, und „so lange die Verhältnisse so sind“, meinte der Regisseur, „kann der Rest nur Traurigkeit sein.“ Doch wenigstens haben die meisten der schottischen Mitspieler inzwischen eine Wohnung gefunden. Detlef Kuhlbrodt

Das „Grassmarket Project“ wurde beim Edinburgher Theaterfestival preisgekrönt.