Kein Guru und kein Rabbi

Mahatma Gandhi, die Juden und die Aktualität  ■ Von Ekkehart Kippendorff

(...) Steins schrille Polemik verfehlt und mißversteht bestürzend gründlich, was Gandhi gesagt, gemeint und als Mahnung hinterlassen hat — sie macht diese ebenso große wie in vielem zugleich unheimliche Figur zur Karikatur.

Ich möchte drei Punkte aufgreifen: Gandhis „asketischer Rigorismus“ am Beispiel des todkranken Sohnes, die Gandhi-Buber-Kontroverse über mögliches Verhalten der Juden gegenüber dem antijüdischen Terror durch die NS-Regierung 1938, und das „tagespolitische Fazit“ für die Politiik Israels heute gegenüber dem Krieg um Kuweit-Irak.

Zu eins: Gandhis Weigerung, den eigenen Sohn heilen zu lassen um den Preis eines Kompromisses mit seinem rigorosen Vegetarianismus, die hat in der Tat etwas Unheimliches, Erschreckendes an sich (ebenso übrigens wie seine absolut lustfeindliche, rigide Sexualmoral) — aber die immerhin von ihm selbst absichtsvoll mitgeteilte Episode sollte uns gleichwohl dazu auffordern, darüber wenigstens nachzudenken, worum es hier ging und geht, anstatt selbstgerecht an den unreflektierten „gesunden Menschenverstand“ zu appellieren. Was sind, so sollten wir uns immer fragen, Prinzipien, wenn wir je nach Opportunität Ausnahmen zulassen? Die christliche Lehre „Du sollst nicht töten“ z.B. ist ebenso eindeutig wie unbedingt. Indem die Kirche aber aus Opportunitätsgründen Ausnahmen zuließ, war der Teufel sozusagen aus der Flasche — wir alle kennen die Folgen: Christen töten mit kirchlichem Segen in Kriegen und durch gesetzliche Todesstrafen genauso ungehemmt und pragmatisch wie Nicht-Christen; wer sich jeglicher Tötungsvorbereitung entzieht, z.B. durch die totale Kriegsdienstverweigerung, wird von christlichen Regierungen aufs Härteste verfolgt und bestraft. Gandhis Vegetarianismus basiert u.a. auf dem ethischen Imperativ, daß der Mensch grundsätzlich und prinzipiell nicht das Recht habe, absichtsvoll zu töten — nicht nur keine Menschen, sondern überhaupt kein Lebewesen. Wer tötet, wer Leben vernichtet, der zerstört sowohl sich selbst als er auch den ihn umfangenden Kosmos verletzt, der das Leben hervorgebracht hat: Leben ist kein Produkt der menschlichen Existenz, sondern umgekehrt, diese ist eine Erscheinungsform des Lebens, vielleicht die höchste, aber dann gerade darum zur besonderen Verantwortung verpflichtet gegenüber allem Lebendigen. Der bekannte Satz „Wo Bücher brennen, da brennen bald auch Menschen“ wäre, gandhisch gesprochen, zu paraphrasieren: wo nicht-menschliches Leben zu töten erlaubt ist, da wird auch menschliches Leben zu töten legitim. (...) Für Gandhi war der Preis, getötetes Leben — in diesem Falle gar etwas so scheinbar banales wie ein zu Brühe verarbeitetes Hühnchen — zur Heilung des kranken Sohnes zu akzeptieren, zu hoch. Darüber ernsthaft nachzudenken, sollten wir uns nicht ersparen, auch wenn wir, die meisten von uns, diese Prinzipienfestigkeit nicht akzeptieren würden; übrigens war Gandhi in zumindest einer vergleichbaren Todessituation mit sich selbst ebenso unerbittlich konsequent.

Zu zwei: Gandhi und die Lage der deutschen Juden 1938. Bekanntlich hat nichts — kein ausländischer Protest (den gab es, wenn auch viel zu schwach) noch der Krieg, der ja übrigens nicht gegen Nazi-Deutschland wegen seiner Judenverfolgungen geführt wurde — den Holocaust verhindert. Gandhi empfahl, wie Stein richtig berichtet, den deutschen Juden innere Festigkeit und die Weigerung, sich vertreiben oder unwürdiger Behandlung aussetzen zu lassen durch Widerstand, gewaltfreien, passiven Widerstand. Martin Buber — er war kein Rabbi, sondern ein großer Philosoph, den man getrost als Sozialisten, ja, ohne ihm Unrecht zu tun, als Anarchisten bezeichnen darf — hat Gandhi die Verharmlosung der Situation der deutschen Juden unter dem NS-Regime vorgeworfen, das nicht mit dem Südafrikas unter englischer Herrschaft verglichen werden könne. Aber Buber hatte keine Alternative anzubieten — oder sollte gemeint sein, daß die deutschen Juden sich (1938!) bewaffnen müßten und ihre Synagogen mit Gewehren und Pistolen verteidigen sollten? Mir scheint, Gandhi hatte hier recht und Buber unrecht. Man stelle sich dieses Szenario vor: kein deutscher Jude folgt den diskriminierenden Anordnungen der deutschen Behörden (Judenstern, getrennte Parkbänke, beschränkte Einkaufszeiten usw.) — wären sie gegenüber Hunderttausenden durchsetzbar gewesen? Man stelle sich vor, kein deutscher Jude wäre Befehlen gefolgt, sich zu Sammeltransporten bei den dafür vorgeschriebenen Sammelplätzen einzufinden — einige Dutzend, einige Hundert, einige Tausend, vielleicht auch einige Zehntausend hätte die deutsche Polizei einzeln (passiver Widerstand!) aus ihren Wohnungen gezerrt und getragen und auf Lastwagen verladen; aber Hunderttausende? Und daß die deutsche Bevölkerung, oder doch tausende Einzene sich da nicht schließlich dazwischengestellt hätten? Nur, weil alles „bei Nacht und Nebel“ ablief, konnten die Deportationen erfolgreich sein und war es den deutschen Nachbarn möglich, wegzusehen, passiv zu bleiben. Oder man stelle sich vor, die Kolonnen der Hunderte und Tausende auf dem Weg zu den Güterbahnhöfen (wir kennen alle die furchtbaren Photos, wie sie stumm und resigniert durch die Straßen unserer Städte marschierten) hätten sich schlicht hingesetzt, „Sitzstreik“ nennen wir das heute — hätten Polizei, SA, Wehrmacht und SS es gewagt, im Angesicht aller deutschen Zuschauer diese Menschen jeden Alters und Geschlechts zusammenzuschlagen und sie Körper für Körper, widerstandslos und doch mächtig, auf Lastwagen zu verfrachten? Versucht hätten sie es, zweifellos, aber — und die Ereignisse des Jahres 1989 zeigten es noch einmal, so wie es Gandhi in Indien gezeigt hatte — die Deportation wäre faktisch zusammengebrochen, physisch undurchführbar geworden. Erst als man diese Menschen heraus hatte aus der Mitte der übrigen Deutschen, konnte man mit ihnen machen, was man wollte, konnte der Holocaust beginnen. Die Spekulation ist zumindest legitim, sich zu fragen, ob das Regime nicht an einem solchen massiven passiven Widerstand selbst zerbrochen wäre, indem es dem deutschen (militärischen) Widerstand einen Rückhalt gab, den er nie wirklich hatte oder zu haben glaubte, auch und gerade noch nach Kriegsausbruch.

Zu drei: Zu behaupten, Gandhi heute hätte die Israelis aufgefordert, ihr Militär aufzulösen und sich von Saddam Hussein vergasen zu lassen, ist fast zu peinlich demagogisch, um ernstgenommen zu werden als „Fazit“. Gandhi war auch ein durchaus taktisch denkender Politiker. In den langjährigen Verhandlungen, die er mit der englischen Kolonialherrschaft erst in Südafrika, dann in Indien führte, ist er immer wieder Kompromisse eingegangen, dachte er praktisch und nicht rigoristisch — und zwar so sehr, daß ihm seine Anhänger mehrfach vorhielten, er hätte ihre Sache verraten, während es ihm um die Erreichung von wichtigen Nahzielen ging, darum, zur Schonung der Menschen — „Kunst des Möglichen“ — das kleinere Übel zu akzeptieren. Nach der Erklärung der Unabhängigkeit Indiens hat er, erstaunlicherweise, sogar die Schaffung einer, wenn auch kleinen, indischen Armee akzeptiert. (...) Richtig ist: Gandhi hat die systematische, und ohne auf die palästinensische Bevölkerung Rücksicht nehmende zionistische Landnahme unter dem Schutz einer europäischen Kolonialmacht von Anfang an verurteilt und scharfsichtig (aber bedurfte es dazu wirklich so großen politisch-historischen oder moralischen Scharfsinns?) gesehen, daß das zu enormen Konflikten, vermutlich sogar zu selbstzerstörerischen Katastrophen führen müsse. An diesem Punkt übrigens dachte Martin Buber, Steins Anti-Gandhi-Kronzeuge, ganz ähnlich: Er hat die Schaffung eines militanten, exklusiven zionistischen Judenstaats von Anfang an verzweifelt bekämpft — ohne Erfolg, wie wir wissen. Buber erhoffte sich ein nicht- staatliches jüdisch-palästinensisches Gemeinwesen der Gleichberechtigung zweier verwandter Völker in gegenseitiger Ergänzung. Richtig an Steins „Fazit“ ist darum nur dies, daß Gandhi gesagt und gesehen hätte, daß ohne eine radikale Umkehr und Abkehr des israelischen Staates von seiner Unterdrückungs- und Ausgrenzungspoplitik im Mittleren Osten kein Ende der Gewalttätigkeiten und des Verlustes an Menschenleben zu erwarten, und daß dazu der sofortige Rückzug aus den besetzten Gebieten die unbedingte Voraussetzung wäre. Diese Besetzung erhält nicht nur die israelische Militär- und Repressionsmaschine am Leben, sonden sie gibt einem Saddam Hussein heute und seinen absehbaren Nachfolgern morgen den furchtbaren Schein der Legitimität einer Vertretung der unterdrückten palästinensisch-arabischen Bevölkerungen. Ein Letztes: Stein müßte es besser wissen als viele andere, daß sein Schlußsatz: „Zum Glück ist Märtyrertum kein originär jüdisches Ideal“ schlicht falsch ist — das Gegenteil ist eher wahr. Jedes Jahr werden die israelischen Soldaten in Masada vereidigt, jener letzten jüdischen Festung, deren Besatzung — mit Frauen und Kindern — den kollektiven Selbstmord der Kapitulation vor den römischen Legionären, 72 n.Chr. vorzog. Besorgte Israelis sehen gerade in diesem „Masada-Komplex“ eine Wurzel für die kompromißlos-rigoristische (um Stein zu paraphrasieren:), „nicht einmal mit der einfachsten politischen Vernunft in Einklang zu bringende“ arrogant-heroische Sebstmordpolitik des Staates Israel. Sie ist in der Tat das genaue Gegenteil von dem, wofür Gandhi stand und steht. Und es war ein wirklicher Rabbi (wie es heißt, ein in Israel sogar besonders hoch angesehener unter den Orthodoxen), der vor kurzem glaubte verkünden zu müssen, der Holocaust sei Gottes Strafe für die Sünden des jüdischen Volkes, für ihre Abtrünnigkeit vom wahren Thora-Glauben gewesen und die gegenwärtige Überlebensbedrohung Israels rühre ebenso daher... Man schütze uns vor den Theologen, auch vor den Gurus, aber die Herausforderung von Gandhis politischer Moral, sie bleibt bestehen.