„Wir brauchen konstruktive Perspektiven“

■ Dieter Senghaas, Friedensforscher und Professor für internationale Politik in Bremen, plädiert für Demokratisierung am Golf, Lösungen für Libanon und Palästina, eine KSZE für den Nahen Osten und eine Entwicklungsagentur

taz: Die Debatte um eine Nahostfriedenskonferenz hat in den letzten Monaten kaum eine Rolle in der praktischen Politik gespielt, weil die USA darin sofort ein „linkage“ mit der Kuwaitfrage sahen. Wird das nach dem Krieg anders sein?

Dieter Senghaas: Amerika hat schon vor der Besetzung Kuwaits sanften Druck auf die Israelis ausgeübt. Man kann davon ausgehen, daß alle Beteiligten, ich würde sagen, auch Israel, sich jetzt bewußt sind, daß man an einer solchen Konferenz nicht vorbeikommt.

Wir wissen zu dieser Stunde nicht, ob die arabischen Staaten der „Koalition“ nicht doch noch die Seiten wechseln werden. Angenommen, das geschieht nicht: Wie kann es nach dem Krieg weitergehen?

Man braucht jetzt schon eine konstruktive Perspektive für diesen Raum, und es könnte sogar sein, daß die Umsetzung in praktische Politik durch die dramatischen Ereignisse vor Ort sogar größer und nicht kleiner wird. Dazu wäre zum Beispiel folgendes nötig: Erstens muß man der internationalen Öffentlichkeit und dem Irak vermitteln, daß der Angriff den Militärapparat ausschalten will und nicht gegen die Existenz eines irakischen Staates selbst gerichtet ist. In den letzten Wochen gab es Stimmen, die meinten, daß der Iran, die Türkei und Syrien sich des Iraks bemächtigen könnten. Zweitens darf in Kuwait nicht einfach das autokratische System der Scheichs wieder eingesetzt werden, ein künftiges politisches System muß — in der Tendenz — demokratischen Ansprüchen, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten entsprechen. Das ist auch ein Signal an die anderen Emirate und Saudi- Arabien. Denn solange mit den Menschen in diesen Regimen brutal umgesprungen wird, ist eine zivilisierte Politik im arabischen Raum nicht möglich.

Verglichen mit dem Palästinaproblem scheint das immer noch die leichtere Aufgabe.

Ja, die Palästinenser brauchen eine Perspektive. Die Demütigung, die sie erleben werden, wird zu noch mehr Verbitterung führen. Man muß klarmachen , daß es bald zu einer Konferenz kommen wird mit dem Ziel, einen palästinensischen Staat zu schaffen. Dieser Krieg hat erneut gezeigt, daß jeder Konflikt in diesem Raum mit der Problematik der Palästinenser verkoppelt werden wird.

Und der Libanon?

Hier wird es sehr schwierig. Man muß auf Syrien, auf Israel einwirken, und es sind relativ eigenständige Bürgerkriegsfraktionen vor Ort aktiv. Schließlich wird man so etwas wie eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten schaffen müssen...

...die auch Ihr Kollege Johan Galtung in der taz schon ins Gespräch gebracht hat...

...die zunächst einmal die Rüstung begrenzen muß. Die Militärpotentiale sind natürlich Ausdruck von Rivalitäten zwischen dem Iran, und dem Irak, Syrien, Saudi-Arabien, Ägypten und schließlich auch Libyen. Arabische Lösungen sind eine Fiktion, solange der arabische Raum durch die vielen Hegemonialauseinandersetzungen zerklüftet ist. Dieser Raum muß zu einem regionalen Sicherheits- und Kooperationssystem werden. Erst dann kann er seine phantastischen Möglichkeiten als Wirtschaftsraum nutzen. Dafür brauchen wir eine Entwicklungsagentur. Die einmalige Chance besteht darin, daß die arabischen Länder und der Iran ihre landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung selbst finanzieren könnten, ohne von Europa oder Amerika abhängig zu sein.

Ich sehe die Akteure noch nicht, die eine solche Kehrtwende in Gang bringen könnten.

Man muß dennoch die Gunst der Stunde nutzen. Auch katastrophale Ereignisse wie dieser Krieg haben ihre positiven Nebeneffekte. Allen Beteiligten wird jetzt klar, daß man die Politik der letzten 20 Jahre nicht einfach fortsetzen kann, daß man die Rücksichtnahme gegenüber denen, die aus sich heraus nicht zu einem konstruktiven Beitrag fähig sind, nicht einfach fortsetzen kann, ich denke hier an Israel genauso wie an die PLO, die sich in den letzten Wochen phantastisch verrannt hat. Es schlägt die Stunde der Einwirkungsmöglichkeiten. Offen ist natürlich, ob sie in dem Raum selbst auf genügend Resonanz stoßen.

Ist nicht jetzt schon absehbar, daß der Kriegsbeginn diese Chance erheblich verringert hat? Ist nicht die Versuchung —gerade nach der abgebrochenen Sanktionsstrategie— gewachsen, auch in Zukunft wieder schnell zu militärischen Mitteln zu greifen, steht nicht sogar vielleicht ein neuer Rüstungswettlauf im Nahen Osten bevor?

Das wäre der schlimmste Fall, dann wartet der nächste Krieg sozusagen schon um Ecke. Aber ich glaube, daß die Politik gerade in dieser Stunde die verdammte Aufgabe hat, konstruktive Perspektiven zu formulieren — auch gerade, um diesen schlimmsten Fall abzuwenden.

Ist die Voraussetzung für eine positive Perspektive nicht auch ein Zusammenhalten des bisherigen anti- irakischen Bündnisses? Das hieße, daß Israel die Offensive weiterhin den USA überläßt.

Man muß hoffen, daß sich der Konflikt nicht weiter ausweitet — also auch, daß Israel stillhält. Interview: Michael Rediske