Der Irak will den Krieg ausweiten.
: Israel am Scheideweg

■ Nach den Raketenangriffen auf Haifa und Tel Aviv kündigte Generalstabschef Dan Shomron eine „Antwort“ an. Auf einer Krisensitzung diskutierten israelische Politiker und Militärs gestern ihre Optionen. Die US-Regierung fürchtet nun ein Auseinanderbrechen ihrer Allianz gegen Saddam Hussein.

Der Irak hat Freitag nacht mit seinem Angriff auf Israel versucht, eine zweite Front zu eröffnen und den Golfkrieg zu einem Nahost-Krieg auszuweiten. Damit ist die Frage nach einem israelischen Gegenschlag aufgeworfen, an der die bisherige anti-irakische Allianz zerbrechen dürfte. Generalstabschef Dan Shomrom erklärte gestern, der irakische Angriff sei „sehr schwerwiegend“ und wird nicht ohne Antwort bleiben. Außenminister David Levy sagte mittags auf einer überfüllten Pressekonferenz, Israel habe die Verpflichtung, nach einem solchen Angriff ohne Verzögerung zu reagieren.

Am Morgen hatte Ministerpräsident Jizchak Schamir eine Krisensitzung einberufen, an der Kabinettsmitglieder und hohe Militärs teilnahmen. Thema dürfte die Frage eines Gegenangriffs auf den Irak gewesen sein. Ergebnisse waren zunächst nicht bekannt. Die israelische Führung befürchtet, daß der Beschuß vom Freitag der Auftakt für einen irakischen Chemiewaffenangriff sein könnte. Der irakische Botschafter in Belgien, Zaid Haidar, drohte gestern mit weiteren Angriffen gegen Israel.

Shomron wies in seiner Stellungnahme darauf hin, daß die irakischen Raketenstellungen in jedem Falle von den alliierten Streitkräften zerstört werden müßten. Levy und Gesundheitsminister Ehud Olmert warnten, daß weitere Attacken auf Israel, vielleicht auch mit nichtkonventionellen Waffen, möglich sind, obwohl die USA Israel versprochen haben, die Raketenabschußbasen zu zerstören. Es wird angenommen, daß der Angriff von mobilen oder in Bunkern versteckten Abschußrampen aus geführt wurde. Die US- Streitkräfte meldeten gestern nachmittag die Zerstörung von acht solcher Rampen.

Springen die arabischen Verbündeten ab?

Vor allem im Falle weiterer irakischer Angriffe und eines sicher spätestens dann erfolgenden israelischen Gegenschlags müssen die USA mit dem Abspringen ihre arabischen Verbündeten rechnen. Daher hatte die Regierung in Washington Israel wiederholt und nachdrücklich gebeten, eine Reaktion auf irakische Angriffe den USA zu überlassen. Nach dem irakischen Raketenbeschuß riefen die USA die Regierung in Jerusalem erneut zur Zurückhaltung auf und versprachen einen angemessenen Gegenschlag. Die Strategen in Washington befürchten zudem, daß die antiamerikanische Opposition in den arabischen Staaten stärker wird und die Positionen der Herrschenden in Syrien und Ägypten oder in den Golfstaaten gefährden könnten.

Für die israelische Bevölkerung gab es nach der Erleichterung vom Vortag ein böses Erwachen, als um zwei Uhr morgens der Alarm ausgelöst wurde. Mindestens sieben Raketen des Typs El Hussein, der irakischen Version der sowjetischen Scud-B, gingen unter anderem in Tel Aviv und Haifa und damit in dicht besiedelten Gebieten nieder. Im Raum Tel Aviv löste eine Rakete ein Großfeuer in einer Fabrik aus, eine andere fiel auf ein Wohnviertel in einem südlichen Vorort. Die Krater waren zwei bis drei Meter tief und hatten einen Durchmesser von sechs Metern. In allen Fällen handelte es sich um konventionelle Sprengköpfe. Dennoch wurde der Bevölkerung empfohlen, Gasmasken aufzusetzen und sich in abgesicherten Räumen aufzuhalten. Nach über einer Stunde wurde der Gasalarm wieder aufgehoben.

Die Schätzungen über Verletzte gehen auseinander; einmal ist von zwölf, einmal von 200 die Rede. Offenbar mußten rund hundert Personen im Krankenhaus behandelt werden, weil sie sich aus Angst vor einem Giftgasangriff das Kreislaufmittel Atropin gespritzt hatten. Zwei Frauen erstickten, weil sie ihre Masken aufsetzten, ohne den Luftfilter zu öffnen. Zwei ältere Frauen mit aufgesetzten Gasmasken wurden am Morgen tot in ihren Wohnungen gefunden. Sie waren offenbar in Panik geraten und erlitten Herzanfälle.

Palästinenser und Libanesen feierten

Über Reaktionen der Palästinenser in den besetzten Gebieten war angesichts der völlig überlasteten Telefonleitungen nichts zu erfahren. Der britische Sender BBC berichtete von einer Demonstration in Ost-Jerusalem, ohne nähere Angaben zu machen. Ein Sprecher der israelischen Armee kündigte an, nach Aufhebung der Ausgangssperre solle die Verteilung von Gasmasken an die Palästinenser fortgesetzt werden. „Wir mußten wählen zwischen der Notwendigkeit, das Ausgangsverbot zu verhängen und der Verteilung der Schutzmasken, und wir haben uns schließlich aus Sicherheitsgründen für die Ausgangssperre entschieden“, sagte der Sprecher. Bisher sind nur Krankenhäuser und palästinensische Gefangene mit Schutzausrüstungen gegen einen Giftgasangriff ausgestattet worden. Der Oberste Gerichtshof in Israel hatte am Montag angeordnet, sofort weiter Gasmasken an die Palästinenser zu verteilen.

Während die westlichen Regierungen den irakischen Raketenbeschuß einhellig verurteilten, feierten Palästinenser, Jordanier und Libanesen den Angriff mit Freudentänzen und Märschen. Zehntausende stürmten nach Bekanntwerden der Attacke in Beirut, Saida und den Flüchtlingslagern auf die Straßen, sangen, tanzten und trugen Bilder von PLO-Chef Arafat und von Iraks Diktator Saddam Hussein. Dabei wurden auch Fahnen der westlichen Länder und Israels verbrannt. Unterdessen überflogen Flugzeuge der israelischen Luftwaffe gestern zweimal libanesisches Gebiet. Am Morgen und Nachmittag war der Luftraum über dem Süden des Landes, vor allem in der von zahlreichen Palästinensern bewohnten Gegend um Saida, voller israelischer Flugzeuge.

Vorbereitungen auf ein banges Wochenende

Die israelische Armee verhängte am Freitag vormittag eine strikte Pressezensur. Alles Material, was Israel betreffe, müsse vor der Veröffentlichung dem Zensor vorgelegt werden. In Israel gibt es ohnehin immer eine Zensur, aber normalerweise betrifft sie Artikel, die sich mit „Sicherheitsfragen“ beschäftigen — ein weites Feld.

Das öffentliche Leben war in Israel gestern wieder weitgehend lahmgelegt. Zeitungen gab es keine, die Kioske blieben geschlossen, die Post und die Banken arbeiteten nicht, und der öffentliche Verkehr war auf ein Minimum reduziert. Ob der Unterricht in den Schulen am Sonntag wieder aufgenommen wird, ist offen. Angesichts der aktuellen Lage gestattete das Oberrabbinat es orthodoxen Juden, auch am Sabbat Nachrichten zu hören. So bereitet sich Israels Bevölkerung auf ein langes, „eingeschlossenes“ und banges Wochenende vor. A.W./B.S.