Wer zählt die Toten von Bagdad?

■ Die Berichterstattung über den Krieg ist Teil des Krieges KOMMENTARE

Noch nie wurde ein Krieg weltweit so ausführlich und so penetrant in so viele Hütten, Wohnstuben und Salons getragen, noch nie hat man so viel erfahren, und noch nie wurde so viel verschwiegen. Das Mißverhältnis hat System. Wir wissen inzwischen, wie zielgenau amerikanische Bomben in Luftschächte von Bunkern geworfen werden. Wir haben es alle am Fernsehen verfolgt. Doch nach vier Tagen Krieg wissen wir immer noch nichts darüber, wieviele Menschen in Bagdad unter dem Bombenhagel gestorben sind. Es gibt keine Aufnahmen von verstümmelten Leichen. Die tödliche Last, die über der irakischen Hauptstadt abgeworfen wurde, ist bereits heute um ein Vielfaches schwerer als diejenige, die einst Dresden zerstörte. Gewiß, das damalige Flächenbombardement richtete sich gegen die Zivilbevölkerung, während die Bomben heute auf die militärischen Anlagen zielen. Diejenigen, die trafen, haben wir gesehen. Diejenigen, die daneben einschlugen, nicht. Die Zensur auf allen Seiten sorgt dafür.

Um Noriega festzunehmen, haben die USA vor einem Jahr in Panama, wie erst viel später bekannt wurde, einige tausend Zivilpersonen totgebombt. Anders als in Panama ist die US-Armee im Irak nicht seit Jahrzehnten in der unmittelbaren Umgebung der Hauptstadt stationiert, und anders als in Panama hat sie es im Irak mit einer hochgerüsteten Armee zu tun. „Es ist nicht meine Aufgabe, Leichen zu zählen“, antwortete jüngst der Oberbefehlshaber der US-Armee am Golf einem Journalisten, der wissen wollte, wieviele Tote der Angriff auf Bagdad bisher gekostet hat. Zweifellos hat der General recht. Die Aufgabe der Militärs ist es, Kuwait zu befreien, Israel vor einem Angriff Iraks zu schützen, das Vernichtungspotential Saddam Husseins zu zerstören. Doch ist das auch Aufgabe der Journalisten? Die US-Zensur des freien Wortes und vor allem des Bildes ist heute am Golf schärfer als vor einem Jahr in Panama; im Irak gab es ohnehin nie freie Medien; und auch in Israel gibt es seit Jahren ganz offiziell eine Zensur. Dahinter stehen militärpolitische Erwägungen: Die USA fürchten eine Antikriegsbewegung in der Heimat; der Irak kann es sich nicht leisten, das Ausmaß an Tod und Zerstörung der eigenen Bevölkerung vor Augen zu führen; Israel will mit der jüngsten Verschärfung der Zensur möglicherweise einen tödlichen Angriff des Iraks erschweren. Die Politiker und Militärs haben ihre Gründe. Müssen es auch die der Journalisten sein?

Gewiß, es ist vermutlich unmöglich, über die Toten von Bagdad vor Ort zu recherchieren. Muß aber deshalb die Optik der Militärs übernommen werden, die einen chirurgischen Schnitt, einen sauberen Krieg und einen aseptischen Tod suggeriert? Zensur bedeutet Halbwahrheit und insofern Lüge. Spätestens seit Vietnam wissen wir zudem, daß der Berichterstattung militärische Relevanz zukommt und daß sie notfalls geheimdienstlich beigemessen wird. Die irakische Luftwaffe sei zum allergrößten Teil zerstört, hieß es nach der ersten Kriegsnacht in den US-Medien. Wer angesichts der Vision eines unkontrollierbaren Infernos einen sofortigen Waffenstillstand vorgeschlagen hatte und auf Verhandlungen drängte, sah sich mit der verlockenden Perspektive der Katharsis via Blitzkrieg konfrontiert. Heute heißt es, von insgesamt über 700 irakischen Kampfflugzeugen seien mit Sicherheit erst elf zerstört. Doch in den wenigen Tagen zwischen den beiden Meldungen hat sich die öffentliche-veröffentlichte Meinung hinter Bush gestellt, wurden kritische Stimmen gegen den Krieg am Golf ins Abseits gedrängt, hat Saddam Hussein den Konflikt mit seinem Angriff auf Israel eskaliert, ist der Ruf nach Verhandlungen leiser geworden und fielen weitere tausende Bomben auf Bagdad. Die Medien sind — nolens volens — längst eine Waffe in diesem schrecklichen Krieg geworden. Deshalb muß die Frage laut gestellt werden: Wer zählt die Toten von Bagdad? Thomas Schmid