„Waffenruhe jetzt — bevor 100.000 sterben“

■ Daniel Ellsberg, prominenter US-Friedensaktivist, zur Politik der Antikriegsgegner INTERVIEW

Daniel Ellsberg ist eine der bekanntesten Figuren der US- Friedens- und Antikriegsbewegung seit dem Vietnamkrieg, zu dessen Beendigung er im Jahr 1971 durch die Veröffentlichung der geheimen „Pentagon-Papers“ über die US-Kriegsplanung in Indochina wesentlich beitrug.

taz: Herr Ellsberg, den Umfragen nach zu urteilen, steht eine große Mehrheit der US-AmerikanerInnen hinter Präsident Bushs Golfpolitik. Ist der Slogan „Unterstützt unsere Truppen!“ auf zahlreichen Transparenten bei den Antikriegsdemonstrationen am Wochenende in Washington der Versuch der Bewegung, aus dieser Minderheitenrolle herauszukommen?

Daniel Ellsberg: Wir werden die Mehrheit sein, wenn — nach einer Invasion Kuwaits oder sogar des Iraks durch US-Bodentruppen — die Särge mit toten GIs hier ankommen. Nur durch Proteste heute, während wir noch in der Minderheit sind, können wir zur Beendigung des Golfkrieges beitragen und dadurch Zehntausende von Leben retten. Das ist unser Beitrag zur Unterstützung der US- Truppen.

Wird es denn überhaupt zu einem Einsatz von US- Bodentruppen kommen und damit vielleicht zu einem Meinungsumschwung in den USA? Die militärische und politische Führung dieses Landes geht offensichtlich nach wie vor davon aus, die irakischen Truppen mit Luft- und Raketenangriffen aus Kuwait vertreiben zu können.

Das ist völlig unrealistisch — weder kurzfristig, was ja die offiziell verkündete Zielsetzung ist — noch langfristig. Das wird auch Präsident Bush schnell erkennen und dann versucht sein, schon sehr bald Bodentruppen einzusetzen.

Was ist die konkrete Forderung der Friedensbewegung in dieser Situation?

Ein Waffenstillstand jetzt. Der Bodenkrieg muß unter allen Umständen verhindert werden. Präsident Bush muß Saddam Hussein jetzt zusichern, daß seine Streitkräfte und sein Land nicht weiter angegriffen werden, wenn er sich jetzt aus Kuwait zurückzieht. Das ist ihm bis jetzt nicht zugesichert worden. Bushs Forderung nach Rückzug, während die Angriffe weitergehen, ist ein schlechter Witz. Die Vorstellung ist absurd, die irakischen Soldaten würden ihre Bunker und Stellungen unter fortgesetztem Bomben- und Raketenbeschuß der USA und ihrer Alliierten verlassen. Wir wollen einen Waffenstillstand, bevor bei dem von der militärischen Führung geplanten massiven Einsatz von B-52 Bombern 100.000 oder 200.000 irakische Soldaten ihr Leben lassen und bevor US-Bodentruppen in den Krieg eingreifen. Die Friedensbewegung will durch tägliche Demonstrationen, Aktionen des zivilen Ungehorsams, Lobby-Kampagnen etc. Druck auf den Kongreß ausüben, damit möglichst viele seiner Mitglieder ihre Courage wiedergewinnen und den Präsidenten zu einem Waffenstillstand jetzt drängen.

Ist das nicht eine Illusion angesichts der bisherigen Abstimmungen im Kongreß?

Ich war natürlich sehr enttäuscht darüber, wie viele Kongreßmitglieder Präsident Bush unterstützt haben. Aber immerhin haben fast die Hälfte des Senats und vierzig Prozent des Abgeordnetenhauses trotz massiven Drucks aus dem Weißen Haus gegen die Golfkriegspolitik des Präsidenten und für eine Verlängerung der Sanktionen gestimmt. Wir hatten nie zuvor so viel Widerspruch im Kongreß zu einem so frühen Zeitpunkt. Im Vietnamkrieg hat es acht Jahre gedauert, bevor der Kongreß so weit war und 1973 die Gelder für die Weiterführung des Krieges strich. Interview: Andreas Zumach/Rolf Paasch