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Unabsehbare Folgen-betr.: Über den Krieg hinaus: Wissenschaftler befürchten langfristige Destabilisierung im gesamten arabischen Raum

Über den Krieg hinaus: Wissenschaftler befürchten langfristige Destabilisierung im gesamten arabischen Raum

Seit Donnerstagmorgen ist der Krieg im Golf Realität geworden. Dem Angriff der US-Amerikaner und ihrer Verbündeten liegt die Überzeugung zugrunde, daß die militärische Durchsetzung der UN-Resolutionen zur Lösung der Golfkrise beitragen könnte. Im Gegensatz zu Militärstrategen, die nur kriegstechnische Möglichkeiten im Auge haben, haben Nahost-Experten in Kenntnis der soziokulturellen Faktoren dieser Gesellschaften aber frühzeitig darauf verwiesen, daß eine derartige Strategie zur Ideologisierung des Konflikts mit unabsehbaren Folgen für die Stabilität der gesamten Region führen kann. Ein wichtiger Grund hierfür ist, daß weite Teile der arabischen Bevölkerung das erklärte Ziel dieses Waffengangs, nämlich die Wiederherstellung der völkerrechtlichen Ordnung, nicht nachvollziehen können.

Wenn auch die Regierungen der meisten arabischen Staaten die militärische Durchsetzung der UN-Resolutionen unterstützen, ist die öffentliche Meinung längst zugunsten Saddam Husseins umgeschlagen. Das Vorgehen der US-Amerikaner machte es dem Diktator leicht, sich zur Symbolfigur arabisch-islamischer Würde und Wehrhaftigkeit zu erheben. Große Teile der Bevölkerung hatten zunächst eine durchaus kritische Haltung gegenüber dem irakischen Präsidenten, seine Akzeptanz steigt aber angesichts der amerikanischen Präsenz in den Golfstaaten, die als eine ungeheuerliche Einmischung in die innerarabischen Angelegenheiten und als eine Provokation ihrer kulturellen Identität gewertet wird. Die Menschen in diesen Ländern sehen im militärischen Eingriff eine Fortsetzung der langen Kolonialgeschichte und ihrer Unterordnung unter die Interessen der westlichen Welt. So standen zum Beispiel einige der kleinen Golfstaaten bis in die sechziger Jahre hinein unter britischem Protektorat. Angesichts der Tatsache, daß das Schicksal der Palästinenser von dieser Kolonialgeschichte ganz besonders gezeichnet war und ist, wird leicht nachvollziehbar, daß sie in besonderem Maße ihre Hoffnung auf Saddam Hussein setzten.

Der Westen legitimiert diesen Krieg mit der Wiederherstellung der völkerrechtlichen Ordnung. Die Menschen im gesamten arabischen Raum hingegen erleben ihn als einen fundamentalen Angriff auf ihre Würde, ihre Religion und ihr Recht auf Selbstbestimmung. Hier gewinnt der Islam als Moment der Identitäts- und Kulturfindung zentrale Bedeutung und ist nicht nur, wie westliche Kritiker es sehen, ein Instrument der psychologischen Kriegsführung im Heiligen Krieg.

In den vergangenen Jahren ist es bereits zu Volksaufständen und Unruhen in einer ganzen Reihe der arabischen Staaten gekommen, so zum Beispiel in Algerien, Marokko, Ägypten und Israel. Die Gründe hierfür liegen in der sich stetig verschlechternden ökonomischen Situation breiter Bevölkerungsschichten als Folge des Nord-Süd-Konflikts. Sie weisen auf ein Konfliktpotential hin, das durch den Krieg im Golf mit großer Sicherheit eine bedrohliche Zuspitzung erfährt.

Was seitens der US-Amerikaner ideologisiert und als Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei geführt wird, ist aber auch nicht nur der Krieg um die Ressource Öl. Es ist auch ein Krieg der Industrieländer gegen ein vom Westen hochgerüstetes Entwicklungsland mit einem für den Westen unberechenbaren Diktator. Und dieser Konflikt wird nicht einzigartig bleiben, sondern den Auftakt bilden für eine Reihe ähnlicher Konfrontationen zwischen der Ersten und der Dritten Welt. Prof.Dr.H.-D.Evers, Vorsitzender des Forschungsschwerpunkts Entwicklungssoziologie der Universität Bielefeld

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